Leonardos Naturwissenschaften
War Leonardo da Vinci ein Naturwissenschaftler?
Leonardo da Vinci war neben seiner künstlerischen Tätigkeit auch ein Naturwissenschaftler. Er widmete sich intensiv der Mathematik, Physik und der Biologie. Leonardos Erfindungen und Kunstwerke waren das Ergebnis dieser Studien. Was heute über Leonardos naturwissenschaftliches Werk bekannt ist, stammt aus seinen zahlreichen Notizbüchern mit insgesamt etwa 6000 Seiten.
Welche Bedeutung hat Leonardos wissenschaftliches Werk?
Leonardos wissenschaftliche Beiträge waren oft weit vor seiner Zeit, weswegen er häufig als Pionier der modernen Naturwissenschaften betrachtet wird. Vor allem Leonardos Einfluss auf den etwa 100 Jahre später geborenen Galileo Galilei (1564-1642), der wie Leonardo aus Florenz stammte, kann nicht überschätzt werden. Um Leonardos herausragende Bedeutung für die Wissenschaftsgeschichte zu schmälern wird häufig argumentiert, dass seine Notizbücher in der Öffentlichkeit lange Zeit unbekannt waren, und Leonardos Werk daher keinen großen Einfluss gehabt haben kann. Diese Sichtweise vernachlässigt jedoch die bereits zur Zeit der Renaissance eng vernetzte europäische Geisteswelt, die über Ländergrenzen hinweg miteinander im Austausch stand.
Mathematik
Euklidische Geometrie
Leonardo da Vinci besaß umfassende mathematische Kenntnisse, vor allem auf dem Gebiet der Geometrie. Geometrie war zu seiner Zeit die vorherrschende Form der Mathematik. Arithmetik, also das Rechnen mit Zahlen, gewann erst im weiteren Verlauf der Renaissance an Bedeutung (s. Adam Ries).
Leonardos Bücherlisten
Leonardo listete mehrmals die in seinem Besitz befindlichen Bücher auf. Daraus geht hervor, dass er zahlreiche Bücher antiker Mathematiker besaß, unter anderem Euklids “Elemente”. Die geometrischen Studien Leonardos zeigen, dass er sich durch Euklids Lehrwerk durchgearbeitet hat. Trotz neuer Entwicklungen in der Mathematik, insbesondere in Bereichen wie Analysis und Algebra, ist Euklids Werk auch heute noch ein Standardwerk der mathematischen Literatur.
Bekanntschaft mit Luca Pacioli
Ein enger Bekannter von Leonardo war der bedeutende Mathematiker Luca Pacioli (1445-1517). Dieser verfasste zahlreiche Abhandlungen über Geometrie und wurde insbesondere durch sein Buch über die doppelte Buchführung bekannt, welches die erste vollständige Zusammenfassung dieser Methode darstellte. Zudem lieferte er eine bedeutende Zusammenfassung der damals bekannten Algebra.
Im Jahr 1498 lud der Mailänder Herzog Ludovico Sforza Luca Pacioli ein, Teil seines Hofstaats zu werden. Leonardo hielt sich zur selben Zeit am Hof des Herzogs auf, und es begann eine enge Zusammenarbeit. Pacioli schrieb ein einflussreiches Buch über den goldenen Schnitt, "Divina Proportione ('Göttliche Proportion'), das Leonardo in Teilen illustrierte. So fertigte er unter anderem 60 Illustrationen geometrischer Körper an.
Fraktale Geometrie
Die fraktale Geometrie ist ein vergleichsweise neues Gebiet der Mathematik. Das Themengebiet begann mit der berühmten Frage “Wie lang ist die Küste Großbritanniens?”. Die zerklüftete Küstenlinie mit zahlreichen kleinen Felsen macht es schwierig, die Frage exakt zu beantworten.
Aus dieser Fragestellung heraus entwickelte Benoît Mandelbrot (1924–2010) die fraktale Geometrie. Sie steht im Kontrast zur klassischen euklidischen Geometrie. Während die euklidische Geometrie mit klaren, begrenzten Formen ohne Selbstähnlichkeit arbeitet, zeichnen sich Fraktale durch Selbstähnlichkeit auf verschiedenen Vergrößerungsebenen aus und haben unendliche Feinstrukturen. Fraktale finden Anwendungen in der Modellierung komplexer natürlicher Phänomene, während die euklidische Geometrie eher in traditionellen mathematischen Kontexten weiterhin Verwendung findet.
Neben Mandelbrot, der das Konzept von selbstähnlichen Strukturen prägte, war Wacław Sierpiński (1882–1969) ein bedeutender Mathematiker der fraktalen Geometrie. Er entwickelte unter anderem das Sierpinski-Dreieck und die Sierpinski-Pyramide.
Eine Zeichnung Leonardos, die die Sierpinski-Pyramide bereits 400 Jahre vor ihrer formalen Beschreibung zeigt, verdeutlicht, wie tiefgreifend Leonardo das Konzept der Proportion, einschließlich Ähnlichkeit und Unendlichkeit verinnerlicht hatte. Und vor allem wie modern diese Denkweise für Mathematiker noch im 20. Jahrhundert war.
Physik
Fallbeschleunigung
Das California Institute of Technology (Caltech) ist eine renommierte US-amerikanische Universität in Pasadena bei Los Angeles, die sich auf Natur- und Ingenieurwissenschaften spezialisiert hat.
In einer aktuellen Veröffentlichung im Journal "Leonardo" (02/23) zeigen Ingenieure der Caltech auf, dass Leonardo da Vinci Experimente durchführte oder konzipierte, um zu zeigen, dass Gravitation eine Form der Beschleunigung ist. Dabei modellierte er die Gravitationskonstante mathematisch mit beeindruckender Genauigkeit von etwa 97 Prozent. Aufgrund fehlender Präzisionswerkzeuge, insbesondere genauer Zeitmessung, war Leonardo zwar eingeschränkt, jedoch zeigen seine theoretischen Überlegungen, dass er bereits im 16. Jahrhundert erstaunlich weit voraus war. Im Gegensatz zu Galileo Galilei, der ein Jahrhundert später lebte, scheint Leonardo das Thema nicht experimentell, sondern eher auf theoretischer Ebene erforscht zu haben.
Kaustik und Himmelsbeobachtung
Leonardo fand die Erklärung für Kaustiken, einem optischen Phänomen, als er sich mit Reflexionen in Hohlspiegeln beschäftigte, mit dem Ziel Lichtstrahlen zu bündeln. Die Untersuchung stand zum einen im Zusammenhang mit der Erfindung eines Solarofens. Durch die im Hohlspiegel gesammelte Energie des Sonnenlichts sollte ein darüber befindliches Gefäß mit Wasser zum Kochen gebracht werden. Zum anderen untersuchte Leonardo die Möglichkeit mit Hilfe eines Hohlspiegels ein Teleskop zu erstellen, speziell ein Spiegelteleskop, um den Mond und die Planeten genauer beobachten zu können. Er entwarf Maschinen zum Schleifen der Hohlspiegel und arbeitete 1513-1516 in Rom mit deutschen Spiegelherstellern zusammen, die zu dem Zweck nach Rom gereist waren. Ein Brief Leonardos an den Bruder des Papstes lässt Zweifel daran aufkommen, dass das Teleskop realisiert wurde. Denn Leonardo beschwert sich darin über den Müßiggang der deutschen Handwerker.
Einfache (Linsen-)Teleskope wurden dann erstmals 100 Jahre später von Galileo Galilei entwickelt und zur Himmelsbeobachtung eingesetzt. Die ersten Spiegelteleskope wurde noch einmal 50 Jahre später entwickelt. Zuvor war die Himmelsbeobachtung nur mit bloßem Auge möglich gewesen.
Dass Leonardo plante, Hohlspiegel zur Himmelsbeobachtung einzusetzen, schreibt er in Codex Arundel (folio 279 verso) und im Codex Atlanticus (folio 518). Eine nicht näher erläuterte Zeichnung einer Apparatur im Codex Atlanticus folio 59 ähnelt heutigen Spiegelteleskopen auffällig, wird von anderen jedoch als Mörser zum Abfeuern von Geschossen interpretiert. Dagegen spricht, dass Leonardo auf der Rückseite des Blattes geometrische Überlegungen zur Lichtbrechung anstellt.
Leonardos Einfluss auf Galilei
Leonardo gilt vielen als Begründer der modernen Naturwissenschaft. Seine naturwissenschaftlichen Schriften hatten einen entscheidenden Einfluss auf nachfolgende Wissenschaftler. Leonardos wissenschaftliche Methode war revolutionär, da er systematisch vorging. Wenn ihm etwas auffiel, dachte er über die Ursache nach, entwickelte eine Erklärung und versuchte dann, seine Vermutung durch Experimente zu belegen. Dabei ging er äußerst gewissenhaft vor und versuchte, aus den Experimenten allgemeine Gesetze abzuleiten. Allerdings war er nicht frei von Irrtümern, wie etwa der Annahme, dass das Wasser auf dem Meeresgrund süß sei. Leonardos fortschrittliches Verständnis von Kosmologie zeigt sich darin, dass er selbstverständlich annahm, die Sonne sei das Zentrum unseres Planetensystems, und lapidar feststellte: "Die Sonne bewegt sich nicht."
Galileo Galilei lebte etwa 100 Jahre nach Leonardo und war wie er in der Nähe von Florenz geboren und aufgewachsen. Auch er verließ die Stadt in jungen Jahren und arbeitete dann erst ab seinem 46. Lebensjahr wieder in Florenz. Galileis legendärer Einfluss auf die Wissenschaft ist unbestritten, aber im Detail liest es sich wie eine Fortsetzung von Leonardos Werk, fast so, als hätte er sich thematisch direkt an Leonardos Schriften orientiert. Einige Beispiele:
- Galileis Methode, die Natur durch eine Kombination aus Experimenten, Messungen und mathematischer Analyse zu erforschen, geht auf Leonardo zurück, der das Prinzip 100 Jahre vor ihm anwandte
- Galileis Untersuchungen über den freien Fall und die Wirkung von Kräften sind Fortsetzungen von Experimenten, die Leonardo in Rom durchgeführt hat (1513-1516)
- Das Gleiche gilt für die optischen Experimente Galileis. Teleskope zur Himmelsbeobachtung wurden erst Anfang des 16. Jahrhunderts erfunden. Leonardo plante vermutlich jedoch bereits 1513 mit Hilfe deutscher Spiegelmacher den Bau des ersten Spiegelteleskops (Hohlspiegel) in Rom. Dass es sich dabei lediglich um einen Solarofen gehandelt haben könnte ist eine ungeklärte Frage. Die Apparatur sollte einen Durchmesser von mehreren Metern haben und der Himmelsbeobachtung dienen. In Briefen an den Bruder des Papstes beschwerte sich Leonardo jedoch, dass die deutschen Spiegelmacher ihre Arbeit nicht erledigten. Nach nur drei Jahren verließ Leonardo den päpstlichen Hof in Rom, und die gewaltige Apparatur blieb unvollendet. Technische Pläne im Zusammenhang mit der Herstellung der Apparatur sind erhalten geblieben (Codex Arundel folio 86r, Codex Atlanticus 672r, 750r, 1036r/v)
- Galilei ist unter anderem für die Erforschung des Fließverhaltens von Flüssigkeiten bekannt. Leonardo wiederum war der erste seit der Antike, der sich mit diesem Thema befasste und zahlreiche Überlegungen dazu hinterließ
Dies sind nur einige Beispiele von vielen, die den Einfluss Leonardos auf die Geschichte der modernen Physik deutlich machen.
Biologie
Künstliche Herzklappe
Leonardo hat keine künstliche Herzklappe hergestellt, um sie einem Menschen einsetzen zu können. Vielmehr war die künstliche Herzklappe ein Ergebnis seiner anatomischen Studien und diente der Veranschaulichung der Funktion des Herzens. Er setzte die künstlichen Herzklappen in ein Gefäß ein, dass die Form eines Herzens imitiert. Indem er Wasser mit einer Suspension von Grassamen durch das Glasmodell pumpte, beobachtete Leonardo die turbulenten Wirbel im Sinusknoten, die seiner Meinung nach für das Aufblähen der Klappen verantwortlich waren, wenn der Blutfluss durch die Klappe nach jedem Herzschlag endete. Sonst würde der Rückfluss des Blutes verursachen, dass die Klappen sich zerknittern (wie oben in der Mitte skizziert) anstatt sich aufzublähen, um die Klappe zu schließen. Eine genauere Erklärung zu dem Blatt findet sich auf der Website des ausstellenden Museums
Beweis für das Zunehmen der Erde
Nimm ein Gefäß und fülle es mit einfacher Erde und stelle es auf ein Dach. Du wirst sehen, dass es im Nu von dichten, grünen Kräutern sprießen wird, und diese bringen, wenn sie herangewachsen sind, verschiedene Samen hervor, und wenn die Kinder zu Füßen ihrer alten Mütter gefallen sind, wirst du sehen, wie die Kräuter, nachdem sie ihre Samen hervorgebracht, verdorren und, nachdem sie auf die Erde zurückgefallen, sich nach einer kleinen Weile in diese verwandeln und sie zunehmen lassen. Danach wirst du sehen, wie die aufgegangenen Samen denselben Lauf nehmen; und du wirst sehen, dass alles Hervorgesprossene, wenn es seinen natürlichen Lauf beendet hat, mit seinem Tod und seiner Fäulnis die Erde vermehrt, und du könntest sehen, wie viel die Erde allgemein zugenommen hat.
Lesehinweis
Leonardos naturwissenschaftliche Forschungen sind bis heute Gegenstand der wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Es versteht sich von selbst, dass an dieser Stelle keine kritische Zusammenfassung des umfangreichen naturwissenschaftlichen Wirkens von Leonardo gewagt werden kann.
Leonardo hinterließ ca. 6000 Seiten mit Aufzeichnungen. Diese Blätter sind jedoch nicht immer von naturwissenschaftlicher Bedeutung, etwa wenn sie alltägliche Banalitäten oder schnelle Skizzen aus dem Leben Leonardos enthalten. In den naturwissenschaftlichen Inhalten sind sie nur selten thematisch geordnet, wiederholen sich in Teilen und oftmals werden auf demselben Blatt verschiedenste Themen behandelt (Papier war teuer zu der Zeit und sollte nicht verschwendet werden). Diese konsequente Unordnung ist ermüdend und schreckt viele moderne Naturwissenschaftler ab, deren Erkenntnisgewinn aus den Blättern, abseits von nostalgischen Erkenntnissen ohnehin gering sein dürfte. Daher werden häufig nur punktuell überraschende Themen entdeckt, wie z.B. der Caltech Artikel zu Leonardos Untersuchung der Gravitationskonstante demonstriert. Es ist bezeichnend, dass der Professor für Luftfahrtechnik, der die Skizze entdeckte und vor allem, sogleich interpretieren konnte, ursprünglich lediglich nach einer Zeichnung Leonardos zum Strömungsverhalten suchte, um sie in einer Vorlesung zu verwenden. Insgesamt gibt es wegen der Komplexität des Themas bis heute keine objektive und vollumfängliche Untersuchung des naturwissenschaftlichen Gesamtwerks von Leonardo.
Dafür bräuchte es zunächst ein international übersetztes Digitalisat sämtlicher Notizbücher Leonardos, dass die Übersetzungen direkt neben die Zeichnungen setzt. Einen guten ersten Versuch, allerdings bisher nur in italienischer Spache (ohne die Möglichkeit diese zu kopieren, um sie zu übersetzen) und mit verhältnismäßig langen Ladezeiten, stellt das wissenschaftliche Projekt e-Leo dar.
Nobody is perfect - das gilt auch für nicofranz.art!
Alle Hinweise zu Fehlern und Korrekturen nehmen wir mit Dank entgegen. Solltest Du inhaltliche Fehler auf dieser Seite finden, lass es uns gerne wissen.