Leonardos Naturwissenschaften

War Leonardo da Vinci ein Naturwissenschaftler?

Leonardo da Vinci war neben seiner künstlerischen Tätigkeit auch ein Naturwissenschaftler. Er widmete sich intensiv der Mathematik, Physik und der Biologie. Leonardos Erfindungen und Kunstwerke waren das Ergebnis dieser Studien. Was heute über Leonardos naturwissenschaftliches Werk bekannt ist, stammt aus seinen zahlreichen Notizbüchern mit insgesamt etwa 6000 Seiten.

Welche Bedeutung hat Leonardos wissenschaftliches Werk?

Leonardos wissenschaftliche Beiträge waren oft weit vor seiner Zeit, weswegen er häufig als Pionier der modernen Naturwissenschaften betrachtet wird. Vor allem Leonardos Einfluss auf den etwa 100 Jahre später geborenen Galileo Galilei (1564-1642), der wie Leonardo aus Florenz stammte, kann nicht überschätzt werden. Um Leonardos herausragende Bedeutung für die Wissenschaftsgeschichte zu schmälern wird häufig argumentiert, dass seine Notizbücher in der Öffentlichkeit lange Zeit unbekannt waren, und Leonardos Werk daher keinen großen Einfluss gehabt haben kann. Diese Sichtweise vernachlässigt jedoch die bereits zur Zeit der Renaissance eng vernetzte europäische Geisteswelt, die über Ländergrenzen hinweg miteinander im Austausch stand.

 

 

Die Sonne bewegt sich nicht.

Leonardo da Vinci Codex Windsor, folio 127 (RCIN 912669)

Mathematik

Euklidische Geometrie

Leonardo da Vinci - Divina Proportione, Kugel
Kugel, Illustration 41 zu Paciolis Buch "Divina Proportione", Leonardo da Vinci
Leonardo da Vinci – Würfel für Luca Paciolis Buch Divina Proportione
Würfel, Illustration 8
Leonardo da Vinci – Tetraeder für Luca Paciolis Buch Divina Proportione
Tetraeder, Illustration 2
Leonardo da Vinci – Dodekaeder für Luca Paciolis Buch Divina Proportione
Dodekaeder, Illustration 28, Die skelettförmige Darstellung ist eine Erfindung Leonardos
Leonardo da Vinci – Ikosaeder für Luca Paciolis Buch Divina Proportione
Ikosaeder, Illustration 22
Leonardo da Vinci – Septuaginta Duarum für Luca Paciolis Buch Divina Proportione
Septuaginta Duarum, Illustration 40

Fraktale Geometrie

Die fraktale Geometrie ist ein vergleichsweise neues Gebiet der Mathematik. Das Themengebiet begann mit der berühmten Frage “Wie lang ist die Küste Großbritanniens?”. Die zerklüftete Küstenlinie mit zahlreichen kleinen Felsen macht es schwierig, die Frage exakt zu beantworten.

Aus dieser Fragestellung heraus entwickelte Benoît Mandelbrot (1924–2010) die fraktale Geometrie. Sie steht im Kontrast zur klassischen euklidischen Geometrie. Während die euklidische Geometrie mit klaren, begrenzten Formen ohne Selbstähnlichkeit arbeitet, zeichnen sich Fraktale durch Selbstähnlichkeit auf verschiedenen Vergrößerungsebenen aus und haben unendliche Feinstrukturen. Fraktale finden Anwendungen in der Modellierung komplexer natürlicher Phänomene, während die euklidische Geometrie eher in traditionellen mathematischen Kontexten weiterhin Verwendung findet.

Neben Mandelbrot, der das Konzept von selbstähnlichen Strukturen prägte, war Wacław Sierpiński (1882–1969) ein bedeutender Mathematiker der fraktalen Geometrie. Er entwickelte unter anderem das Sierpinski-Dreieck und die Sierpinski-Pyramide.

Eine Zeichnung Leonardos, die die Sierpinski-Pyramide bereits 400 Jahre vor ihrer formalen Beschreibung zeigt, verdeutlicht, wie tiefgreifend Leonardo das Konzept der Proportion, einschließlich Ähnlichkeit und Unendlichkeit verinnerlicht hatte. Und vor allem wie modern diese Denkweise für Mathematiker noch im 20. Jahrhundert war.

Zerlegung eines Pyramidenkörpers in Fraktale, Codex Atlanticus folio 334
Die aus der fraktalen Geometrie bekannte Sierpinski Pyramide müsste eigentlich Leonardo Pyramide heißen. Der Mathematiker Sierpienski (1882-1969) war ein Pionier der fraktalen Geometrie

Physik

Fallbeschleunigung

Das California Institute of Technology (Caltech) ist eine renommierte US-amerikanische Universität in Pasadena bei Los Angeles, die sich auf Natur- und Ingenieurwissenschaften spezialisiert hat.

In einer aktuellen Veröffentlichung im Journal "Leonardo" (02/23) zeigen Ingenieure der Caltech auf, dass Leonardo da Vinci Experimente durchführte oder konzipierte, um zu zeigen, dass Gravitation eine Form der Beschleunigung ist. Dabei modellierte er die Gravitationskonstante mathematisch mit beeindruckender Genauigkeit von etwa 97 Prozent. Aufgrund fehlender Präzisionswerkzeuge, insbesondere genauer Zeitmessung, war Leonardo zwar eingeschränkt, jedoch zeigen seine theoretischen Überlegungen, dass er bereits im 16. Jahrhundert erstaunlich weit voraus war. Im Gegensatz zu Galileo Galilei, der ein Jahrhundert später lebte, scheint Leonardo das Thema nicht experimentell, sondern eher auf theoretischer Ebene erforscht zu haben.

Zur Pressemeldung der Caltech

Experiment zur Bestimmung der Fallbeschleunigung, Codex Arundel, folio 143 und folgende
Ein Wasserkrug wird waagerecht von rechts nach links gezogen. Dabei verliert er pro Zeiteinheit einen Wassertropfen. Wenn die Wassertropfen wie hier dargestellt zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer geraden Linie fallen sollen (Hypotenuse des rechtwinkligen gleichschenkligen Dreiecks), dann muss sich der Wasserkrug zu dem Zeitpunkt mit derselben Beschleunigung nach links bewegen, wie die Beschleunigung mit der die Tropfen fallen. Leonardo beschriftete die Hypotenuse mit "Ausgleich (Äquivalenz) der Bewegungen" ('Equatione di Moti')

Kaustik und Himmelsbeobachtung

Leonardo fand die Erklärung für Kaustiken, einem optischen Phänomen, als er sich mit Reflexionen in Hohlspiegeln beschäftigte, mit dem Ziel Lichtstrahlen zu bündeln. Die Untersuchung stand zum einen im Zusammenhang mit der Erfindung eines Solarofens. Durch die im Hohlspiegel gesammelte Energie des Sonnenlichts sollte ein darüber befindliches Gefäß mit Wasser zum Kochen gebracht werden. Zum anderen untersuchte Leonardo die Möglichkeit mit Hilfe eines Hohlspiegels ein Teleskop zu erstellen, speziell ein Spiegelteleskop, um den Mond und die Planeten genauer beobachten zu können. Er entwarf Maschinen zum Schleifen der Hohlspiegel und arbeitete 1513-1516 in Rom mit deutschen Spiegelherstellern zusammen, die zu dem Zweck nach Rom gereist waren. Ein Brief Leonardos an den Bruder des Papstes lässt Zweifel daran aufkommen, dass das Teleskop realisiert wurde. Denn Leonardo beschwert sich darin über den Müßiggang der deutschen Handwerker.

Einfache (Linsen-)Teleskope wurden dann erstmals 100 Jahre später von Galileo Galilei entwickelt und zur Himmelsbeobachtung eingesetzt. Die ersten Spiegelteleskope wurde noch einmal 50 Jahre später entwickelt. Zuvor war die Himmelsbeobachtung nur mit bloßem Auge möglich gewesen.

Dass Leonardo plante, Hohlspiegel zur Himmelsbeobachtung einzusetzen, schreibt er in Codex Arundel (folio 279 verso) und im Codex Atlanticus (folio 518). Eine nicht näher erläuterte Zeichnung einer Apparatur im Codex Atlanticus folio 59 ähnelt heutigen Spiegelteleskopen auffällig, wird von anderen jedoch als Mörser zum Abfeuern von Geschossen interpretiert. Dagegen spricht, dass Leonardo auf der Rückseite des Blattes geometrische Überlegungen zur Lichtbrechung anstellt.

Leonardo da Vinci – Geometrische Studien
Reflexion von Lichtstrahlen in einem Hohlspiegel (Kaustik), Codex Arundel, folio 87 verso
Prinzip eines Spiegelteleskops (?), Codex Arundel 86 verso (Ausschnitt um 90° nach links gedreht)
Leonardo bezieht die Skizze hier auf einen Solarofen, gleichzeitig lässt sich das grundlegende Prinzip auch auf ein Spiegelteleskop anwenden. Leonardos Erklärung zu der Skizze (https://www.leonardodigitale.com/en/browse/codex-arundel/0086-v/):

"Unter den konkaven Spiegeln gleichen Durchmessers wird derjenige, der eine geringere Krümmung hat, eine größere Menge an Strahlen an der Stelle des Zusammenflusses dieser Strahlen vereinen und folglich das Feuer mit größerer Geschwindigkeit und Kraft entzünden. Die Kurve oder Linie p ist der Ort des oben genannten Spiegels: a b ist der Ort der Breite der Strahlen, die von der Sonne zum Spiegel fallen: n ist der Ort für das Zentrum des Kreises der Kugel, von dem der Spiegel seine Krümmung erhalten hat; m ist der Ort, an dem sich eine große Anzahl von reflektierten Strahlen sammelt und wo eine größere Hitze erzeugt wird als an irgendeinem anderen Ort des strahlenden Pyramidenabschnitts o p m. Die Linie oder Sonnenstrahl, der von b nach p absteigt, ist diejenige, die unter gleichen Winkeln in der Linie p m zurückprallt, wie durch die Kurve t r gemessen wird, ein Teil des Umfangs um den Punkt oder das Zentrum p. Das Gleiche geschieht mit allen Strahlen, die von der Sonne nach b absteigen, indem sie immer unter gleichen Winkeln auf den Spiegel treffen und von ihm abprallen, wie in den Winkeln v, x gezeigt wird. Es wird auch bewiesen, dass alle Winkel, die den Winkel der einfallenden und reflektierten Linie einschließen, untereinander gleich sind, wie durch die Linien vom Zentrum der Kugel, von dem der Spiegel seine Krümmung hat, klargestellt wird, das heißt, von Punkt n nach o p, die alle auf diesen Spiegel unter gleichen Winkeln fallen, wie die Linie K I zeigt, die zwischen den Winkeln v, x fällt, die gleich sind, weil es sphärische rechte Winkel sind. Dann werden gleiche Teile mit der Linie K und der Linie m l weggenommen, wie in der Kurve K d gezeigt wird, die in der Mitte durch i geteilt ist. Wenn also von den gleichen Winkeln v, x gleiche Teile i d und i h l weggenommen werden, bleibt der Rest c h ve '(Rest x d y) gleich. So ist bewiesen, dass v, x gleich Winkel untereinander sind.
Auf der rechten Seite der Figur: a b ist der konkavere Spiegel, den ich mit gleichem Durchmesser unter den unteren Spiegel o p stelle, und du kannst deutlich erkennen, dass von 6 bis 7, entgegen b a, kein Teil dieses Spiegels seine Strahlen an den Punkt des tatsächlichen Zusammentreffens, nämlich i, sendet, sondern alle davon nach unten, nämlich zu 2 und 3.
Der Spiegel o p ist der vierzigste Teil des größeren Kreises, der sich in der Kugel befindet, von dem er verursacht wird, und es wäre besser, wenn er der fünfzigste wäre, und noch besser und nützlicher der hundertste.
Am unteren Rand des Blattes rechts: Der weniger gebogene Spiegel entsteht aus einem kleineren Teil des Kreises."

Leonardos Einfluss auf Galilei

Leonardo da Vinci - astronomische Zeichnung
Astronomische Studie, Codex Leicester, folio 2
An dieser Stelle erklärt Leonardo, dass bei Neumond die der Erde zugewandte Seite des Mondes das auf die Erde treffende Sonnenlicht reflektiert. Daher erscheint der eigentlich dunkle Neumond in einem blassen Licht. Der Effekt ist als Da-Vinci-Glow bekannt
Leonardo da Vinci - Zeichnung zur Strömungslehre
Studie zur Strömungsmechanik, Codex Leicester, folio 24
Leonardo zeigt, wie die Unterspülung von Uferabschnitten durch Veränderung der Strömung verhindert werden kann
Leonardo da Vinci - Zeichnung einer selbsttragenden Brücke
Mechanik einer Brücke (Bautechnik), Codex Atlanticus, folio 69
Die Brücke ist selbsttragend und besteht aus einzelnen losen Baumstämmen, die nur in dieser Art übereinander gelegt werden müssen, so dass keine Seile, Nägel oder Leim notwendig sind
Armillarsphäre, Perspektograph, Camera Obscura (Lochkamera) und ein Maler, Codex Atlanticus, folio 5
Leonardo nutzte die Camera Obscura: Wird ein ansonsten dunkler Raum mit einem kleinen Loch versehen, wird auf der gegenüberliegenden Wand ein spiegelverkehrtes Abbild der Außenwelt dargestellt. Um so kleiner das Loch, um so schärfer ist die Darstellung

Biologie

Künstliche Herzklappe

Leonardo hat keine künstliche Herzklappe hergestellt, um sie einem Menschen einsetzen zu können. Vielmehr war die künstliche Herzklappe ein Ergebnis seiner anatomischen Studien und diente der Veranschaulichung der Funktion des Herzens. Er setzte die künstlichen Herzklappen in ein Gefäß ein, dass die Form eines Herzens imitiert. Indem er Wasser mit einer Suspension von Grassamen durch das Glasmodell pumpte, beobachtete Leonardo die turbulenten Wirbel im Sinusknoten, die seiner Meinung nach für das Aufblähen der Klappen verantwortlich waren, wenn der Blutfluss durch die Klappe nach jedem Herzschlag endete. Sonst würde der Rückfluss des Blutes verursachen, dass die Klappen sich zerknittern (wie oben in der Mitte skizziert) anstatt sich aufzublähen, um die Klappe zu schließen. Eine genauere Erklärung zu dem Blatt findet sich auf der Website des ausstellenden Museums

Zum Royal Collection Trust

Anatomische Studie zur Funktion der Herzklappe eines Ochsenherzens, Windsor, Royal Library (9)19082
Die Skizze oben rechts ist die Gussform für die künstlichen Herzklappen aus Wachs

Beweis für das Zunehmen der Erde

Nimm ein Gefäß und fülle es mit einfacher Erde und stelle es auf ein Dach. Du wirst sehen, dass es im Nu von dichten, grünen Kräutern sprießen wird, und diese bringen, wenn sie herangewachsen sind, verschiedene Samen hervor, und wenn die Kinder zu Füßen ihrer alten Mütter gefallen sind, wirst du sehen, wie die Kräuter, nachdem sie ihre Samen hervorgebracht, verdorren und, nachdem sie auf die Erde zurückgefallen, sich nach einer kleinen Weile in diese verwandeln und sie zunehmen lassen. Danach wirst du sehen, wie die aufgegangenen Samen denselben Lauf nehmen; und du wirst sehen, dass alles Hervorgesprossene, wenn es seinen natürlichen Lauf beendet hat, mit seinem Tod und seiner Fäulnis die Erde vermehrt, und du könntest sehen, wie viel die Erde allgemein zugenommen hat.

Lesehinweis

Leonardos naturwissenschaftliche Forschungen sind bis heute Gegenstand der wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Es versteht sich von selbst, dass an dieser Stelle keine kritische Zusammenfassung des umfangreichen naturwissenschaftlichen Wirkens von Leonardo gewagt werden kann.
 

Leonardo hinterließ ca. 6000 Seiten mit Aufzeichnungen. Diese Blätter sind jedoch nicht immer von naturwissenschaftlicher Bedeutung, etwa wenn sie alltägliche Banalitäten oder schnelle Skizzen aus dem Leben Leonardos enthalten. In den naturwissenschaftlichen Inhalten sind sie nur selten thematisch geordnet, wiederholen sich in Teilen und oftmals werden auf demselben Blatt verschiedenste Themen behandelt (Papier war teuer zu der Zeit und sollte nicht verschwendet werden). Diese konsequente Unordnung ist ermüdend und schreckt viele moderne Naturwissenschaftler ab, deren Erkenntnisgewinn aus den Blättern, abseits von nostalgischen Erkenntnissen ohnehin gering sein dürfte. Daher werden häufig nur punktuell überraschende Themen entdeckt, wie z.B. der Caltech Artikel zu Leonardos Untersuchung der Gravitationskonstante demonstriert. Es ist bezeichnend, dass der Professor für Luftfahrtechnik, der die Skizze entdeckte und vor allem, sogleich interpretieren konnte, ursprünglich lediglich nach einer Zeichnung Leonardos zum Strömungsverhalten suchte, um sie in einer Vorlesung zu verwenden. Insgesamt gibt es wegen der Komplexität des Themas bis heute keine objektive und vollumfängliche Untersuchung des naturwissenschaftlichen Gesamtwerks von Leonardo. 


Dafür bräuchte es zunächst ein international übersetztes Digitalisat sämtlicher Notizbücher Leonardos, dass die Übersetzungen direkt neben die Zeichnungen setzt. Einen guten ersten Versuch, allerdings bisher nur in italienischer Spache (ohne die Möglichkeit diese zu kopieren, um sie zu übersetzen) und mit verhältnismäßig langen Ladezeiten, stellt das wissenschaftliche Projekt e-Leo dar.
 

Zum e-Leo Projekt

Eitel und voller Irrtümer ist die Wissenschaft, die nicht von der Erfahrung, der Mutter aller Gewissheit, getragen wird, die nicht geprüft wird durch Erfahrung

Leonardo da Vinci

Nobody is perfect - das gilt auch für nicofranz.art!

Alle Hinweise zu Fehlern und Korrekturen nehmen wir mit Dank entgegen. Solltest Du inhaltliche Fehler auf dieser Seite finden, lass es uns gerne wissen.