Leonardo da Vinci – Felsgrottenmadonna

Fels­grotten­madonna

Die Felsgrottenmadonna ist das erste eigenständige und vollendete Gemälde Leonardo da Vincis. Es wird auf 1483-1486 datiert und zeigt Maria, die Mutter Jesu und einen Engel, sowie Jesus und Johannes den Täufer als Knaben. Das originale Gemälde befindet sich heute im Pariser Louvre. Die auftraggebenden Mönche waren mit der Darstellung unzufrieden. Es kam zu einem 20 Jahre andauernden Rechtsstreit, so dass von der Werkstatt Leonardos eine zweite, leicht veränderte Version angefertigt werden musste. Diese befindet sich in der National Gallery in London.

Gedrängt von meinem sehnsüchtigen Wunsch und Verlangen, die große Fülle der mannigfaltigen und seltsamen Formen zu sehen, welche die kunstreiche Natur hervorbringt, gelangte ich, nachdem ich schon eine Weile zwischen den dunklen Felsen umhergerirrt war, zum Eingang einer großen Höhle. Ich blieb eine Zeit lang davor stehen, gebührlich staunend und ohne Kunde über sie, dann beugte ich meinen Rücken, mit der linken Hand auf das Knie stützend und mit der rechten beschattete ich meine gesenkten und gerunzelten Augenbrauen. Ich beugte mich mal hierhin, mal dorthin, um auszumachen, ob drinnen etwas zu erkennen sei. Aber das blieb mir wegen der großen Dunkelheit versagt, die dort drinnen herrschte. Nachdem ich eine Weile so verblieben war, kamen zwei Gefühle in mir auf: Furcht und Verlangen: Furcht vor der bedrohlich dunklen Höhle und das Verlangen zu erforschen, ob nicht etwas Wunderbares darin verborgen wäre.

Leonardo da Vinci
Leonardo da Vinci – Felsgrottenmadonna
Leonardo da Vinci – Felsgrottenmadonna (Londoner Version)
I

Der umgebende Altarrahmen war grob als Goldenes Rechteck angelegt. Der goldene Schnitt der Bildhöhe bildet die Abgrenzung der Figurengruppe nach oben und ein weiterer schneidet das Auge des Täufers (orange Linien). Die Augen des Engels geben den Hinweis, dass das Gemälde von unten nach oben konstruiert wurde (Mouseover)

II

Durch stetige Teilung des Bildformats im goldenen Schnitt entsteht eine goldene Spirale, die das rechte Auge des Jesus schneidet. Ihr geometrischer Mittelpunkt wird bestimmt durch die genau zwei Diagonalen aller entstandenen goldenen Rechtecke. Die längere Diagonale tangiert das rechte Auge der Madonna und schneidet ihre Halsbrosche exakt. Die Augen aller vier Figuren sind über den goldenen Schnitt verbunden (Mouseover).

III

Das Gemälde zeigt das Prinzip der stetigen Halbierung. Auch hier bilden Augen und Hände Markierungen der so entstandenen Vertikalen und Horizontale (blaue Punkte). Bedingt durch die stetige Halbierung kommt es auch hier zu einem goldenen Schnitt von Auge und Hand des Engels, sowie der segnenden Hand des Jesus (Mouseover)

IV

Die Augen der Figurengruppe lassen sich in einen Kreis fassen, der genau halb so breit ist, wie das Gemälde. Alle Augen sind über Dreiecke verbunden, die aus symbolischen Winkeln bestehen (30°,60°,90° oder 45°,90°,45° oder 60°,45°,75° – Mouseover). Ein viertes Dreieck vom Engel ausgehend zeigt einen 108° Winkel, den Innenwinkel des regelmäßigen Fünfecks (hellblau)

x

Felsgrottenmadonna (1. Version, Louvre)
Leonardo da Vinci
1483-1486
Öl auf Holz, 199 × 122 cm
Musée du Louvre, Paris (Inventarnummer: 777)

Felsgrottenmadonna (2. Version, London)
Werkstatt Leonardo da Vinci
1491-1508
Öl auf Holz, 189,5 × 120 cm
National Gallery, London (Ausstellungsraum 66)

 

Biblischer Hintergrund

Das Gemälde wurde als Altarbild konzipiert und bezieht sich auf das Protoevangelium des Jakobus, einer außerbiblischen Legende, nach der sich Jesus Christus und Johannes der Täufer im Kindesalter begegnet sein könnten.

Die dargestellten Personen 

Die vier Personen sind biblische Charaktere, die der Vorstellungswelt der auftraggebenden Mönche entsprachen. Die Darstellung einer Maria und des Jesus wurde von den Mönchen vertraglich vorgegeben, außerdem mehrere Engel und zwei Propheten. Leonardo aber wich in der Ausführung von den Vorgaben ab und bestimmte die Figuren nach seinen eigenen Vorstellungen.

Maria, Mutter Jesu

Sie ist die Mutter von Jesu und wurde durch das Wunder der unbefleckten Empfängnis schwanger.

  • Die Auftraggeber des Gemäldes waren Franziskanermönche vom Orden der unbefleckten Empfängnis und somit Anhänger des Marienkults

Jesus

Sohn Gottes und Erlöser der Menschheit, vollführte zahlreiche Wunder und wurde am Kreuz hingerichtet, weil er das Volk verführt haben soll. Nachdem er starb, kam es zum Wunder seiner Auferstehung

  • Das Gemälde sollte als Altarbild einer christlichen Kapelle dienen, die Darstellung des Jesus war von den Mönchen vorgeschrieben

Johannes der Täufer

Seine Mutter, die ältere Elisabet und die junge Maria waren Verwandte. Sie wurden auf wundersame Weise ein halbes Jahr nacheinander schwanger (lk 1,36). Johannes war genau sechs Monate älter als Jesus. Der Johannestag (Geburt Johannes) wird heute am 24.6. gefeiert, also ein halbes Jahr vor dem 24.12. (Weihnachten/ Christi Geburt). Johannes der Täufer predigte als Prophet von der baldigen Ankunft Gottes und taufte Jesus und andere. Er wurde später als Aufrührer verhaftet und durch Enthauptung hingerichtet.

  • Johannes der Täufer ist der Schutzherr von Florenz, der Heimatstadt Leonardos
  • Zugleich war Johannes der Schutzherr des Ordens der unbefleckten Empfängnis, dem Auftraggeber des Gemäldes

Ein Engel

Es ist unklar, welcher Engel gezeigt wird. Im Zusammenhang mit Johannes dem Täufer wird häufig Uriel genannt, der vierte Erzengel und Engel des Lichts. Es könnte sich aber auch um Gabriel handeln, dem Engel der Verkündigung, der zum einen Johannes Mutter Elisabet, als auch Maria die wundersame Schwangerschaft vorhersagte und fortan als deren Beschützer galt.

Um welche Szene handelt es sich?

Leonardo war frei in der Auswahl der Szene. Er entschied sich für eine Erzählung, die ihm erlaubte, eine größtmögliche Vielfalt interessanter Elemente der Natur darzustellen. Er entschied sich für die Flucht aus Ägypten.

Flucht der heiligen Familie nach Ägypten

Im neuen Testament wird erzählt, dass kurz nachdem Jesus geboren wurde, es zu Prophezeiungen kam, die von einem neuen König der Juden sprachen (Mt 1,1). Der amtierende König Herodes fühlte sich bedroht und ließ in seinem Reich alle männlichen Kinder bis zwei Jahren töten (Kindermord von Bethlehem).

Maria floh daraufhin mit Jesus und ihrem Mann Josef nach Ägypten. Die Flucht und insbesondere die Rast auf der Flucht sind von jeher ein beliebtes Motiv in der Malerei.

Flucht von Elisabeth und Johannes

In den außerbiblischen Apokryphen (Protoevangelium des Jakobus) wird erzählt, dass Elisabeth zur Zeit der Kindermorde mit ihrem Kind Johannes ins Gebirge flüchtete. Als sie dort keinen Unterschlupf fand, „spaltete sich der Berg und nahm sie auf. Und jener Berg ließ für sie ein Licht durchscheinen. Denn ein Engel des Herrn war mit ihnen und beschützte sie".

Sind Johannes und Jesus sich in einer Höhle begegnet?

Die Höhle wird im Protoevangelium des Jakobus nur mit der Flucht von Elisabet und Johannes verbunden, nicht aber mit der von Maria und Jesus. Zudem ist das Protoevangelium des Jakobus nicht kanonisch und unterscheidet sich in zahlreichen Details vom neuen Testament. Jakobus erzählt überwiegend die Vorgeschichte Marias und ihrer Mutter Anna und endet zur Zeit der Geburt von Jesus Christus. Daher ist das Buch hauptsächlich in der Marienverehrung populär.

Eine Begegnung von Johannes und Jesus während der Flucht kann aufgrund der Verwandtschaft von Maria und Elisabet angenommen werden, wird dort aber nicht erzählt. Die Begegnung der beiden Familien in einer Höhle ist also eine Bilderfindung Leonardos und die einzige Darstellung dieser Art.

Für das Gemälde von Bedeutung ist der Umstand, dass in Jakobus Version Maria den Jesus nicht in einem Stall gebiert, sondern in einer Höhle. Also hat in dieser außerbiblischen Erzählung die titelgebende Höhle des Gemäldes sowohl für Jesus (Geburt) als auch für Johannes (Zufluchtsort) eine elementare Bedeutung.

Symbolik

Das Gemälde Leonardos ist vor allem dadurch bekannt, dass die Zuordnung der Personen nicht eindeutig ist. Vor dem Hintergrund der vagen Informationen über das Leben der biblischen Personen gelingt Leonardo ein faszinierendes Spiel mit den gängigen Vorstellungen. Allerdings führte diese Austauschbarkeit der Abgebildeten zu einem Rechtstreit zwischen Leonardo und den auftraggebenden Mönchen in dessen Folge eine zweite Version angefertigt werden musste (Londoner Version). Die wurde leicht verändert, so dass Jesus und Johannes nicht mehr vertauscht werden können. So bekam der Johannes unter anderem einen Johannesstab.

Johannes oder Jesus?

Bereits den Zeitgenossen fiel auf, dass schwer zu sagen ist, wer Jesus, und wer Johannes ist. Grundsätzlich ist links Johannes und rechts der segnende Jesus dargestellt.

Was Leonardo anders macht

Leonardo verzichtet bewusst auf jegliche charakterisierende Attribute, so trägt Johannes weder ein Fell aus Kamelhaar, noch hält er den langen Johannesstab.

Die Darstellung widerspricht auch ansonsten der gängigen Symbolik christlicher Malerei.

  • Johannes wird erhöht über Jesus dargestellt
  • Johannes wird teilweise vom schützenden Mantel der Maria bedeckt, der junge Jesus dagegen sitzt bedrohlich nah an einem Abgrund
  • Johannes ist der Maria näher, so dass er von ihr berührt werden kann, der junge Jesus ist weiter entfernt
  • der Engel zeigt nicht auf Jesus, sondern auf Johannes
  • Johannes wird von Maria und Jesus direkt angeschaut. Er ist der einzige, auf den zwei Personen blicken

Durch diese Konstellation der Figuren entsteht der Eindruck, dass der Johannes im Mittelpunkt der Szene steht.

Der überraschende Wechsel

Mit diesem Wissen kann das Jesuskind (das untere) als Johannes gesehen werden. Seine segnende Geste erinnert an den taufenden Johannes. Das linke obere Kind, wie für Jesusdarstellungen üblich etwas erhöht, nimmt, nun als Jesus, in betender Haltung die Taufe des Johannes entgegen.

Werden die Gesichtszüge beider Kinder betrachtet, ist darin kaum ein Unterschied feststellbar. Beide blicken ohne Entzücken und nehmen damit ihr grausames Schicksal vorweg. Johannes wird enthauptet, Jesus ans Kreuz geschlagen.

Leonardo löst dieses Wechselspiel auf, indem er die linke Figur räumlich an den linken Bildrand setzt, wodurch sie an Bedeutung verliert, wohingegen das rechte Kind sich nah an der Bildmitte befindet und leicht heller erscheint. Außerdem ist der knieende Körper der Madonna auf das rechte Kind gerichtet, wodurch es wieder an Bedeutung gewinnt, bis es erneut in Beziehung mit den anderen Figuren gesetzt wird und das Wechselspiel beginnt von Neuem.

Der Konflikt mit den Mönchen

Die auftraggebenden Mönche vom Orden der unbefleckten Empfängnis duldeten diese Doppeldeutigkeit bis zu einem gewissen Grad. Dem Ordensnamen ist zu entnehmen, dass sie der Gottesmutter Maria sehr verbunden waren und Johannes der Täufer war Schutzherr des Ordens. Daher hatten sie nichts dagegen, wenn die Madonna und der Johannes prominenter in Szene gesetzt wurden.

Doch die fehlende Unterscheidbarkeit der Knaben war ein Problem für sie. Ebenso der Fingerzeig des Engels, der im religiösen Kontext missverstanden werden konnte. In der späteren Londoner Version wurde der Johannes durch eindeutige Attribute deutlich erkennbar gemacht, der Fingerzeig des Engels entfernt und die Szene leicht vergrößert, so dass Johannes noch weiter zum Rand gerückt wurde und die Jesusfigur eine zentralere Rolle einnahm.

Maria oder Elisabet?

Das Wechselspiel bezieht sich nicht nur auf die beiden Kinder. Ebenso ist die Identität der beiden Frauen nicht eindeutig. Leonardo war ein Meister darin, Figuren eine androgyne Erscheinung geben zu können, wenn es die Bilderzählung verlangte, doch hier hat er darauf verzichtet. Es sind daher zwei weibliche Figuren, da der rechte Engel keinesfalls männliche Züge trägt.

Wo ist die Mutter von Johannes?

Leonardo zitiert eine Geschichte aus den Apokryphen. Dort wird erzählt, wie sich Johannes Mutter Elisabet mit ihrem Sohn in einer Höhle versteckt. Das Gemälde nimmt an, dass sich Maria und Jesus, die sich ebenfalls auf der Flucht befinden, dort mit ihnen getroffen haben. Diesen Moment vom Aufeinandertreffen der Verwandten stellt das Gemälde nach.

Es ist in diesem Zusammenhang absolut naheliegend, dass Johannes Mutter Elisabet anwesend sein muss. Sie wird ihr Kleinkind kaum aus den Armen gegeben haben. Demnach müsste es sich bei den beiden weiblichen Figuren um Maria und Elisabet handeln.

Ein Engel oder Elisabet?

Die Flügel des rechten Engels sind vor dem Felsen kaum zu erkennen. Die Farbtöne und der Schatten des Engels sind so gewählt, dass sie leicht übersehen werden können. Auch in der besser erhaltenen Londoner Version werden die Flügel kaum betont. Leonardo hat den Engel also bewusst menschlicher erscheinen lassen wollen. Ein Mensch, der unverkennbar weiblich ist. Im Zusammenhang des apokryphen Textes kann es sich dann nur um Elisabet handeln.

Elisabet oder Maria?

Analog zum Wechselspiel der Kinder kann sich die Identität der beiden Mütter nun ändern. Jede kann nun jeweils Maria oder Elisabet sein, je nachdem ob das Kind, das sie berührt nun Jesus oder Johannes ist.

Dass Uneindeutigkeit in Leonardos Absicht lag, beweist die Farbwahl. Die Mönche ließen vertraglich festlegen, dass die Madonna mit einem blauen Umhang gemalt werden muss. Blau war die ikonographische Farbe für Mariengewänder. Leonardo wich auch hier von den Vorgaben ab, denn der Umhang der Frau im Zentrum ist überwiegend in Grüntönen gemalt, wie eine Untersuchung der Farbwerte aufzeigt und nur in den dunklen Bereichen tatsächlich dunkelblau. Dass der Mantel dennoch blau wirkt, liegt an dem Komplementärkontrast, den Leonardo durch die vielen Orangetöne drumherum in Szene setzt (Haut und Innenfutter des Mantels). Erst in der Londoner Version ist der Mantel dann wirklich blau.

Die Chronologie von Elisabet und Maria

Für das Gemälde kann die höhere Position der Elisabet gegenüber der Maria im biblischen Kontext begründet werden.

  • Elisabet war eine Frau im vorgerückten Alter (lk 1,18). Sogar so alt, dass ihr Mann nicht glaubte, sie könnte je wieder schwanger werden
  • der Erzengel Gabriel kam zuerst zu Elisabets Mann und verkündete ihm ihre wundersame Schwangerschaft
  • Maria war die jüngere, der Erzengel Gabriel kam zu ihr erst, als Elisabet im sechsten Monat schwanger war und verkündete ihr die Geburt des Messias

Es ist also eine Chronologie erkennbar. Wird das Gemälde nun von oben nach unten als chronologischer Stammbaum betrachtet, so wird gezeigt, dass Elisabet den Johannes gebar und kurz darauf die Maria den Jesus. Da die Madonna ohne Zweifel die bedeutendere der beiden Frauen ist, kommt ihr aber die zentrale Rolle im Gemälde zu und das Wechselspiel löst sich wieder auf. Dass beide Frauen in jungen Jahren gezeigt werden, dient hier ebenso der Verwechslungsmöglichkeit.

Der berühmte Fingerzeig des Engels

Die Mehrdeutigkeit der Figuren des Altarbildes treibt Leonardo auf die Spitze, als er dem Engel einen zeigenden Finger aufmalt. Radiologische Untersuchungen des Gemäldes haben ergeben, dass dieser sich auf der Unterzeichnung nicht finden lässt, in der späteren Londoner Version fehlt er ebenfalls. Der Fingerzeig wird häufig mit Johannes dem Täufer in Verbindung gebracht, da Leonardo in seinem vermutlich letzten Gemälde, das Bild von Johannes dem Täufer eine identische Handhaltung zeigt. Dieselbe Hanhaltung wird ebenfalls in Leonardos zentralem Hauptwerk gezeigt, dem letzten Abendmahl. Es ist gut erkennbar, wie die Geste, je nach Kontext, ihre Bedeutung ändern kann.

Die unbefleckte Empfängnis der Maria

Bisher wurde außer Acht gelassen, dass das Gemälde von Leonardo das Protoevangelium des Jakobus auch im Hinblick auf Maria zitiert. Denn in der außerbiblischen Erzählung gebiert Maria nicht in einem Stall, sondern in einer Höhle. In der Folge kommt es in der Erzählung zu einer Begebenheit, die zu Leonardos Zeit Anlass zahlreicher Debatten war, vor allem unter den Franziskanermönchen, der Debatte um die Möglichkeit einer unbefleckten Empfängnis.

Salomes Fingertest

Jakobus erzählt, dass nachdem Maria Jesus in der Höhle geboren hatte, ihre Amme eine Salome traf und ihr davon erzählte, dass eine Jungfrau ein Kind geboren hat. Salome zweifelte stark an der Geschichte und bestand darauf, die Jungfräulichkeit der Maria selbst zu prüfen:

"So wahr der Herr, mein Gott, lebt: Wenn ich nicht meinen Finger hinlege und ihren Zustand untersuche, werde ich nicht glauben, daß eine Jungfrau geboren hat. Und die Hebamme ging hinein und sagte: 'Maria, lege dich bereit. Denn ein nicht geringer Streit erhebt sich um dich.' Und Maria hörte es und legte sich bereit. Und Salome legte ihren Finger hin zur Untersuchung ihres Zustandes." (Protoevangelium des Jakobus)

Nach der Prüfung bereute Salome und ein Engel erschien ihr, der sie aufforderte das Kind in den Arm zu nehmen. Sie nahm es auf und sprach: "Huldigen will ich ihm, denn Israel ist ein König geboren worden".

Die Farbkodierung

Der rote Umhang des Engels ist ein auffälliger Kontrapunkt zu den Hauttönen, dem Grau der Felsen und dem Grün der Kleider und Pflanzen. Leonardo hat also auf der rechten Seite eine auffällige rote Farbfläche gesetzt, die einen Gegensatz zu der inhaltlichen Bedeutung des Kindes auf der linken Seite bildet (dem Wechselspiel der Figuren Jesus und Johannes).

Rot kann je nach Kontext verschiedene symbolische Bedeutungen haben. Im Kontext der Höhle, der Anwesenheit Marias, und dem Fingerzeig der rechten Figur, erscheint der Engel im roten Gewand nun als ungläubige Salome der Jakobuserzählung, die die unbefleckte Empfängnis der Maria prüft(e). Ihr Finger zeigt nun nicht mehr auf den Johannesknaben, sondern auf den Schoß der Maria. Ihr Lächeln drückt ihre Ungläubigkeit aus, und zugleich ihre Freude über den bestandenen Test.

Das Rot ihres Mantels verweist nun auf die Menschlichkeit Salomes und das fließende Blut, da sie nicht unbefleckt gebären kann (Eine Geburt ist mit Blutverlust verbunden). Die Maria hingegen erlebte das Wunder der unbefleckten Empfängnis, an ihr lässt sich kein Rot finden. Vielmehr ist sie auch nach der Geburt in der Höhle noch rein wie ein Juwel.

Leonardo da Vinci – Kopf der Madonna aus der Felsgrottenmadonna
Felsgrottenmadonna (Detail), Leonardo da Vinci
Das klare Juwel, das den Mantel der Maria zusammenhält, verweist auf die unbefleckte Empfängnis der Maria

Fazit zu der Wandlungsfähigkeit der Figuren

Leonardo erzählt in der Felsgrottenmadonna also mindestens zwei Geschichten. Zum einen die Geschichte von der jungfräulichen Geburt Marias in der Höhle und zum anderen die Geschichte von der Flucht Elisabets und Johannes dem Täufer in eine Höhle. Beide Geschichten sind außerbiblisch und demselben apokryphen Protoevangelium des Jakobus entnommen.

Diese Art vom Verschmelzen verschiedener Erzählungen in einem Bild ist typisch für Leonardo Gemälde. Er wurde damit meisterhaft den Ansprüchen gerecht, die seine Auftraggeber an ihn stellten. Denn es gelang ihm zum einen die Erzählung von Johannes dem Täufer und der Maria vor die Erzählung von Jesus zu stellen und zum anderen zugleich auf die Frage der unbefleckten Empfängnis zu verweisen, die die Franziskaner zu dieser Zeit diskutierten und nach der der auftraggebende Orden benannt war.

Die moderne Art der Bilderzählung

Das erste eigenständige und vollendete Gemälde Leonardos zeigt so seine Haltung zu der Frage, wie Bilderzählungen auf moderne Art komponiert sein müssen. Das revolutionäre an seinem Werk wird deutlich, wenn es mit den Besten seiner Zeit verglichen wird. Hier ein Werk Botticellis im Auftrag des Papstes, das in etwa zeitgleich entstanden ist und sich heute direkt neben Michelangelos berühmten Gemälden in der sixtinischen Kapelle in Rom befindet.

Sandro Botticelli – Prüfungen des Mose
Sandro Botticelli, Prüfungen des Mose, 1481/82 Sixtinische Kapelle, Vatikan

Botticelli war ein ehemaliger Mitschüler Leonardos in Verrocchios Werkstatt (Florenz). Das Gemälde vereinigt mehrere Szenen aus Moses Leben (Moses wird im grün/gelben Umhang dargestellt). Derartige Anordnungen waren in der Renaissance weit verbreitet. Leonardo brach bewusst mit dieser Tradition, denn es war sein Anspruch viele Geschichten in einem Augenblick zu erzählen. Denn das sei nur der Malerei möglich, nicht der Musik und nicht der Dichtung

Die Höhle

Die Höhle als Zufluchtsort ist dem apokryphen Text entnommen, von dem sich Leonardo inspirieren ließ. In diesem Text spaltet sich der Berg und bietet Elisabet und ihrem Sohn Johannes Schutz vor den Kindsmördern des Herodes.

Der Fels

Der umgebende Fels ist somit ein Symbol für den Glauben an Gott. Er dient als Zufluchtsort vor den Gefahren der Welt und trennt das Gute der Welt vom Bösen um ihn herum. Leonardo schließt den Fels nicht nach oben hin, sondern öffnet ihn, damit, wie es im apokryphen Text heißt, "Licht durchscheinen [kann], denn ein Engel des Herrn war mit ihnen und beschützte sie".

Das Licht

Das Licht ist das selbstverständlich wiederkehrende Motiv Leonardos und dient als Symbol für das Licht Gottes, dass sogar tiefste Finsternis erhellen kann. Es wird sowohl mit Johannes, der zwar nicht selbst das Licht war, aber Zeugnis ablegen sollte für das Licht (joh 1, 5-8), als auch mit Jesus, dem "Licht der Welt" (joh 8,12), assoziert. Ihre nackten hellen Körper weisen auf diesen Umstand hin.

Die Pflanzen

Das Licht ist auch die Ursache dafür, dass in der Felswüste Pflanzen wachsen können. Die genaue Bestimmung der Pflanzen ist Gegenstand fortwährender Debatten, doch deutet viel darauf hin, dass die Pflanzen bewusst ausgewählt worden sind und über ihre Symbolik auf das zukünftige Schicksal der Maria und des Jesus hindeuten.

Das Meer

Bei dem Meer im linken Bildhintergrund soll es sich ebenfalls um einen Verweis auf Maria handeln. Leonardo hatte eine Vorliebe für Wortspiele, so umgab er die Ginevra de' Benci mit einem riesigen Wacholder (ital. 'Ginepro'), oder er malte die Cecilia Gallerani, mit einem Wiesel (altgr. 'galéē'). So auch hier, denn hinter der Maria erhebt sich das unendliche Meer (ital. 'Mare'). Leonardo hätte kein Wasser außerhalb der Höhle zeigen müssen, um die apokryphe Geschichte des Jakobus zu erzählen.

Geburt und Auferstehung

Bei Jakobus heißt es, Jesus sei nicht in einem Stall, sondern in einer Höhle zur Welt gekommen. Damit ist die Höhle ein Symbol der Geburt Christi, also der Menschwerdung Gottes (Jesus wird als Gottes Sohn bezeichnet).

Das finale Wunder des Jesus ist seine Auferstehung. Nachdem er gekreuzigt wurde und verstarb, wurde er der Bibel nach drei Tage in einer Höhle aufgebahrt. Dann ist er von den Toten auferstanden und hat die Höhle verlassen.

Nach Jakobus apokrpyher Legende ist die Höhle damit sowohl ein Symbol für den Beginn (Geburt), als auch das Ende der Jesus Erzählung (Aufbahrung und Auferstehung).

Die Brosche

Eine weitere Besonderheit des Gemäldes ist eine zentral positionierte Brosche, die den dunkelblauen Umhang der Madonna zusammenhält, der auf der auf der Innenseite mit einem goldfarbenen Stoff gefüttert ist. Die Brosche besteht aus einem sehr großen, transparent erscheinenden Edelstein, der von zwanzig kleineren Edelsteinen oder Perlen umfasst wird. Bei dem zentralen Edelstein könnte es sich um einen sehr großen Diamanten handeln oder aber um einen leicht gelblich schimmernden Opal. Ein Diamant dieser Größe hätte einen enormen Wert und würde auch heute noch zu den größten Diamanten der Welt zählen. Im Fall eines Opals wäre der Edelstein um ein Vielfaches günstiger, aber immer noch sehr wertvoll.

Das reflektierende Fenster

Der zentrale Edelstein zeigt eine auffällige Reflexion. Das klare geometrische Muster und die streng senkrechten und waagerechten Linien können nicht vom Cabochonschliff des Edelsteins stammen (ovale Form, flache Unterseite und eine gleichmäßig nach außen gewölbte, sogenannte mugelige Oberseite). Die Reflexion auf dem Edelstein lässt sofort an ein Fenster denken, das sich aus Sicht der Madonna rechts befinden muss. Die Position des angenommenen Fensters deckt sich mit dem Winkel des Lichts, das im Gemälde von links einfällt. Die Spiegelung eines Fensters auf der Brosche ist insofern überraschend, als das die im Gemälde gezeigte Szenerie ausschließlich eine Höhle in der Natur zeigt und keine Hinweise auf ein Zimmer oder dergleichen gibt.

Das Atelier des Künstlers

Dass Leonardo ein reflektierendes Fenster malt, dass nur bei genauerem Betrachten der zentralen Brosche zu erkennen ist, ist in erster Linie einer der für Leonardos Gemälde typischen Scherze. Er verweist damit auf den Umstand, dass es sich um ein so täuschend echt wirkendes Gemälde handelt, dass Betrachtende durch den Verweis auf das fensterbelichtete Atelier des Künstlers darauf hingewiesen werden müssen, dass sie nicht Teil der Bildwelt des Gemäldes sind, sondern von außerhalb auf eine bemalte Holztafel schauen. Es ist bemerkenswert, dass der Engel in Richtung des einfallenden Lichts zeigt und gleichzeitig auf Betrachtende außerhalb des Bildraums blickt.

Zum anderen verweist Leonardo damit auf eine Regel zur Anlage eines Künstlerateliers. In seinem berühmten "Buch von der Malerei" schreibt er, dass der Arbeitsplatz im Atelier des Malers von links her beleuchtet sein sollte. Vermutlich, damit der Schatten der arbeitenden Hand nicht das Werk überlagert. Er muss dabei davon ausgegangen sein, dass seine eigene Linkshändigkeit nur auf ihn beschränkt sei, denn für ihn als Linkshänder, müsste das Licht in dem Fall von rechts einfallen, um keinen störenden Schatten zu erzeugen. Spätere niederländische Malergenerationen (vor allem Jan Vermeer) spielen darauf in ihren Gemälden an, wo das Licht meist durch ein Fenster auf der linken Seite in die Zimmer fällt.

Die Brosche in Leonardo zugeschriebenen Gemälden

Die Brosche der Felsgrottenmadonna befindet sich auf drei weiteren Gemälden, die aktuell noch Leonardo da Vinci zugeschrieben werden. Allen drei Gemälden ist gemein, dass die Autorschaft Leonardos strittig ist. Auch wenn die Brosche auf den Gemälden nie ganz identisch ist, ist die Ähnlichkeit dennoch verblüffend. Die Größe des zentralen Edelsteins im Verhältnis zur Körpergröße der Figuren variiert nur leicht, allerdings ist die Anzahl der umfassenden kleineren Edelsteine nicht gleich. Fast scheint es, dass gerade diese Ähnlichkeit zur Brosche der zweifelsfrei echten Felsgrottenmadonna die strittigen Gemälde mit Leonardos Werk in Verbindung bringen soll.

Im Blickpunkt steht dabei unter anderem das Gemälde "Salvator mundi", das teuerste jemals versteigerte Gemälde (~500 Mio Dollar). Es ist erstmals durch eine Fotografie von etwa 1900 nachweisbar. Es wurde um 2005 wiederentdeckt und aufwändig restauriert. So aufwändig, dass Kritiker meinen, es wäre kein Werk Leonardos, sondern das seiner Restauratorin Dianne Modestini. Darüber hinaus gibt es weitere Anhaltspunkte (unter anderem die geometrischen Beziehungen in dem Gemälde), dass das kostbare Kunstwerk nicht von Leonardo gemalt wurde.

Bildkomposition

Als Leonardo den Auftrag zur Felsgrottenmadonna übernahm, war der Altar bereits im Rohbau konstruiert. Leonardos Werkstatt übernahm nur die Bemalung der Mitteltafel und das Gemälde links und rechts davon (zwei musizierende Engel). Die einrahmenden 18 Tafeln, die sehr viel kleiner waren, wurden von anderen Malern angefertigt. Das zeigt, dass Leonardo bei dem Format keinen Spielraum hatte. Er musste den Raum nutzen, der durch die Altarkonstruktion vorgegeben war.

I Goldener Schnitt

Das Grundformat des Gemäldes ist vom Architekten des Altars im goldenen Schnitt angelegt worden, ebenso geht der nach oben abschließende Bogen auf seinen Entwurf zurück. Leonardo greift diese Proportion auf.

  • die Höhe des Gemäldes verhält sich zur Breite im goldenen Schnitt. Die äußeren Abemessungen bilden demnach ein Goldenes Rechteck. Allerdings muss das Bild dafür in der Höhe etwas gekürzt werden, damit die Proportion des goldenen Schnitts tatsächlich genau stimmt (orange gestrichelte Linie; Vergleich Original zu Ideal: 0,6074 vs. 0,6108 = ca. 0,6% Abweichung).
  • die Höhe des Gemäldes wird so im goldenen Schnitt geteilt, dass sich die Figurengruppe unterhalb des oberen Kopfendes der Madonna befindet (obere orange Linie)
  • wird diese Höhe erneut im goldenen Schnitt geteilt, verläuft er nun durch die Augen des Täufers (blauer Punkt), ebenso wird die Schulter des Engels tangiert (untere orange Linie)
  • durch die Teilung des Goldenen Rechteckformats des Gemäldes im Goldenen Schnitt entstehen zwei Quadrate, in die je ein Kreis gezeichnet werden kann (weiße Kreise). Der obere bildet den Rundbogen, der untere fasst die Figurengruppe ein, was vor allem am Fuß des linken Kindes sichtbar wird (Mouseover)
  • der obere Kreis verläuft genau durch das rechte Auge des Engels (blauer Punkt). Diese Art von Verbindung der Geometrie mit der Darstellung ist typisch für Leonardo

Die Ungenauigkeit des oberen Bogens

Leonardo hat dem oberen Bereich des Altarbildes weniger Sorgfalt zukommen lassen. So ist der nach oben abschließende Bogen nicht kreisrund, sondern links von etwas geringerer Höhe (oberer weißer Kreis). Das lässt darauf schließen, dass ein gewisser Teil des Gemäldes von der Rahmung verdeckt werden sollte, und zwar der obere.

Die Londoner Version wurde schließlich den Mönchen für den Altar übergeben. Sie ist ca. 10cm weniger hoch, zeigt oben kaum noch Himmel und ist mit dem Seitenverhältnis von 0,613 näher am goldenen Schnitt (0,618) als die Louvre Version (0,607). Das und die nicht vorhandenen Details am oberen Bildrand sprechen sehr dafür, dass der obere Teil der Louvre Version stets verdeckt bleiben sollte. Der Louvre stellt das Werk dann heute auch so aus, dass der Teil oberhalb der orangenen gestrichelten Linie verdeckt wird.

Der ursprüngliche Altar hat sich nicht erhalten. Eventuell war er nach oben hin ungenau gefertigt oder im Detail unvollendet und Leonardo hat das Gemälde bewusst etwas höher bemalt, als es notwendig war, um etwas Spielraum für die vertikale Positionierung des Bildes im Rahmen zu schaffen.

Richtung der Bildkomposition

Grundsätzlich kann festgestellt werden, dass das Gemälde aus geometrischer Sicht von unten nach oben komponiert wurde. Das wird an den Schnittpunkten des goldenen Schnitts im Auge des Täufers, sowie im Auge des Engels deutlich.

  • der obere Kreis kann exakt am oberen Bildrand angesetzt werden und trifft dann genau das andere Auge des Engels (Mouseover)

Da sich aus geometrischer Sicht keine weiteren Beziehungen aus der Komposition von oben nach unten ergeben, ist der Schnittpunkt des Kreises mit dem rechten Auge des Engels sicherlich nur ein Hinweis Leonardos auf die mangelnde Genauigkeit des umgebenden Rahmens. Leonardo hat auf geometrische Harmonie stets großen Wert gelegt.

II Goldene Spirale

Bei einem goldenen Rechteck stehen die Seiten zueinander im Verhältnis des goldenen Schnitts. Die Felsgrottenmadonna ist als Goldenes Rechteck angelegt worden.

Durch stetige Teilung eines Goldenen Rechtecks im goldenen Schnitt entsteht je Teilung ein Quadrat und ein kleineres goldenes Rechteck. Wird in ein so entstandenens Quadrat ein Viertelkreis eingezeichnet entsteht eine Goldene Spirale (untere Abbildung).

Es handelt sich dabei um eine zur Renaissance übliche Näherungskonstruktion, die tatsächliche logarithmische Kurve verläuft minimal anders.

Diagonalen und Verlauf der Spirale

Eine Besonderheit der Goldenen Spirale ist die Bestimmung ihres Mittelpunkts. Der befindet sich im Schnittpunkt je einer Diagonale der zwei äußeren umgebenden Goldenen Recktecke (gelbe Linien). Nur diese zwei Diagonalen sind zugleich eine Diagonale jedes anderen goldenen Rechtecks innerhalb der Teilungen.

  • die längere der beiden Diagonalen tangiert das linke Auge der Madonna und scheidet ihre Halsbrosche exakt (längere gelbe Diagonale)
  • die kürzere der Diagonalen kann parallel so nach oben verschoben werden, dass sie sowohl die Halsbrosche der Madonna, als auch das rechte Auge des Täufers schneidet (Mouseover, gestrichelte Linie)
  • die goldene Spirale tangiert das Gewand und die Schulter des Engels und schneidet das verdeckte rechte Auge des Jesus

Werden die Erkenntnisse aus I hinzugezogen

  • goldener Schnitt der Bildhöhe durch das linke Auge des Täufers (blauer Punkt)
  • auf dem goldenen Schnitt der Bildhöhe aufsetzender Kreis schneidet das linke Auge des Engels (Mouseover)

wird nun deutlich, dass die Augen aller vier Figuren über den Goldenen Schnitt verbunden sind. Auf die Augen des Täufers wurde bei der Konstruktion des goldenen Schnitts ein Schwerpunkt gelegt, den nur bei ihm werden beide Augen geschnitten.

III Stetige Halbierung

Neben dem goldenen Schnitt zeigt das Gemälde auch das Prinzip der stetigen Halbierung.

  • der Durchmesser des oberen Kreises teilt das Gemälde in denoberen Bogen und ein darunterliegendes Rechteck. Die halbe Höhe dieses Rechtecks verläuft exakt entlang des Zeigefingers des Engels (rote Horizontale, blauer Punkt).
  • die Mittelsenkrechte tangiert den linken Rand der Halsbrosche der Madonna
  • links und rechts von der Mittelsenkrechten lässt sich das Gemälde erneut vertikal teilen (weiße Vertikale). Die linke Vertikale schneidet das linke Auge des Täufers, die rechte Vertikale das rechte Auge des Engels
  • im dritten Viertel von links finden erneut Telungen statt. Die erste führt zu einer Vertikalen durch das linke Auge des Jesus, die zweite zu einer Vertikale durch Daumen der Madonna und den zwei segnenden Fingern des Jesus
  • aufgrund der Symetrie der weißen Vertikalen lässt sich der obere Kreis ebenso halbieren, da er so auf beiden aufsetzt (obere kleinerer weißer Kreisbogen ). Dieser Zusammenhang wird in der Folge wichtig

Bedingt durch die stetige Halbierung kommt es auch hier zu einem goldenen Schnitt

  • das untere Rechteck, das vom oberen Kreisdurchmesser begrenzt wird, lässt sich in der Höhe erneut im Goldenen Schnitt teilen und trifft auch hier das linke Auge des Engels (Mousover, orange Linie)
  • der Zeigefinger des Engels teilt die Höhe von linkem Auge des Engels und den Fingerspitzen des segnenden Jesus im goldenen Schnitt (Mouseover)
  • segnende Finger des Jesus und Ellbogen des betenden Täufers liegen auf einer Höhe

Augen und Hände als geometrische Markierungen

Es wird erneut deutlich, welch bedeutende Rolle den Augen in der Bildkomposition zukommt. Sie sind nicht nur Markierungspunkte für den goldenen Schnitt, sondern auch für vertikale und horizontale Teilungen. Die zwei segnenden Finger, die sich exakt unter dem linken Daumen der Madonna befinden sind als Hinweis Leonardos auf das Prinzip der stetigen Teilung zu verstehen: 1:2(:4 ... usw). Es ist interessant, dass Leonardo erst jetzt beginnt, auch die Hände einzubinden. Die vier Hände des Bildzentrums können durch nur zwei Linien verbunden werden: zum einen die horizontale Linie des Zeigefingers des Engels zu den betenden Händen des Johannes, zum anderen die vertikale Linie vom Daumen der Madonna zu den segnenden Fingern des Jesus. Die Abstände und die Positionierung dieser vier Hände erinnern an ein auf der Seite liegendes Kreuz.

Das architektonische Muster

Insgesamt entsteht ein Muster, das an eine architektonische Struktur erinnert, z.B. ein Fenster, einen Altar oder auch den Eingang zu einer Höhle. Grundsätzlich verweist die entstandene Struktur darauf, dass die Architektur ihren Ursprung in der Geometrie hat und drückt den bis ins 20.Jh. gültigen Grundsatz aus, dass jeder als schön wahrgenommene Entwurf aus der harmonischen Gliederung seiner Teile besteht. Dies wird besonders deutlich an den Fassaden klassischer Bauwerke.

Das Schicksal des Täufers

Die horizontale Verlängerung des Zeigefingers des Engels (rote Horizontale) verläuft direkt unterhalb des Kopfes von Johannes dem Täufer und direkt über seinen betenden Händen. Der auf ihn deutende Zeigefinger des Engels verweist so auf das dramatische Schicksal des Täufers. Er wurde eingekerkert und schließlich enthauptet. Die Enthauptung des Johannes ist von jeher ein beliebtes Motiv in der Malerei.

Auch in seinem letzten Gemälde vollführt Leonardo eine geometrische Enthauptung des Johannes. Beide Gemälde sind seine einzigen Darstellungen des Täufers.

IV Winkel und Dreiecke

Leonardo hat die Augen der Personen in der zentralen Figurengruppe über symbolische Winkel miteinander verbunden, die in einen umgebenden Kreis eingeschrieben sind. Die Augen der vier Personen sind die Grundlage für vier Dreiecke, die ebenfalls in symbolischen Winkeln angelegt wurden.

  • die Augen der vier Personen können in einen Kreis eingeschrieben werden, der exakt halb so groß ist, wie der nach oben abschließende obere Kreis, d.h. er ist ist halb so breit wie das Gemälde (hellblauer Kreis)
  • der Mittelpunkt des Kreises befindet sich in senkrechter Linie unter dem linken Auge der Madonna. Zudem ist er so positioniert, dass ein Durchmesser des Kreises das rechte Auge der Madonna und die Mittelsenkrechte des Gemäldes schneidet (gestrichelte Vertikale). Dafür wurde der Kreis um 6° gedreht
  • eine Drehung des Kreises um weitere 3,5° bildet einen Durchmesser der die Augen von Engel und Täufer verbindet (gestrichelte Horizontale)
  • Vom rechten Auge der Madonna führt ein 36° Winkel zum rechten Auge des Täufers, von ihrem linken Auge ein 72° Winkel zum linken Auge des Jesus (orange Linien). Der 72° Winkel ist der Mittelpunktswinkel eines regelmäßigen Fünfecks (der 36° Winkel die Hälfte, dementsprechend der Mittelpunktswinkel eines regelmäßigen 10-Ecks)
  • Vom Auge des Engels spannt sich ein 108° Winkel auf (Mouseover, blaues Dreieck). Er zeigt zum Auge des Jesus und zum Schnittpunkt des Kreises mit dem 72° Winkel Blick der Madonna zum Jesus (rechte orange Linie). Der 108° Winkel (Innenwinkel) ist wie der 72° Winkel (Mittelpunktswinkel) in der geometrischen Symbolik unmittelbar mit dem regelmäßigen Fünfeck verbunden
  • Die Augen sind so im Umkreis platziert worden, dass sich daraus symbolische Dreiecke bilden lassen (Mouseover)
    45°,90°, 45° (gelbes Dreieck)
    60°,45°,75° (grünes Dreieck)
    30°,60°,90° (blaues Dreieck)

Die Spitze des gelben Dreiecks (45°,90°, 45°) weicht um 3,5° vom rechten Auge der Madonna ab, doch ist das Dreieck zu auffällig, um unerwähnt zu bleiben. Das Prinzip übereinander gelegter Dreiecke mit symbolischen Winkeln ist auch aus anderen Gemälden Leonardos bekannt.

V Doppelbilder

Leonardo empfahl eine Mauer zu betrachten, um die Phantasie anzuregen: "Ebenso kannst du dort verschiedene Schlachten und Gestalten mit lebhaften Gebärden, seltsame Gesichter und Gewänder und unendlich viele Dinge sehen, die du dann in vollendeter Form und guter Gestalt wiedergeben kannst." (vollständiges Zitat am Ende dieser Seite). Leonardo hat die Figuren im Vordergrund bereits "in vollendeter und guter Gestalt" wiedergegeben, diese Einschränkung war seiner Meinung nach wichtig, um gute Maler von schlechten zu unterscheiden. Möglicherweise ist die Felsgrottenmadonna aus einer solchen Meditation entstanden.

Eine überraschende Parallele

Im Bildhintergrund spielt Leonardo in der Form der Felsen mit diesen Täuschungen der Wahrnehmung. Denn das komplexe geometrische System der Bildmitte aus Augen und Händen wiederholt sich in der Form der Felsen und wird durch eine elementare geometrische Parallele bestätigt.

Die Blickachse von Täufer und Engel ist um 9,5° nach rechts oben geneigt (6° + 3,5°). Im Hintergrund der Landschaft erscheinen markant zwei Felsen im Gegenlicht als Formen, die nicht natürlich scheinen. Es ist kein Zufall, dass die Spitzen der beiden Felsen parallel zu der Blickachse von Täufer und Engel liegen, und ebenfalls durch einen 9,5° Winkel miteinander verbunden sind. Wird nun die Bedeutung von Händen und Augen im Bildzentrum in Erinnerung gerufen, können die zwei Felsen im Gegenlicht von weitem betrachtet an zwei Augen erinnern, doch zugehörige Nase und Mund lassen sich nicht erkennen. Es ist eine bewusste Irritation Leonardos, um suchend Betrachtende einzuladen, "auszumachen, ob drinnen etwas zu erkennen sei" (vollständiges Zitat am Anfang dieser Seite).

Die Taufe

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Die Wandernden

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Melancholia

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Madonna Fels

coming soon

Der Schöpfer

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Die Erleuchtung des Jesus Kindes

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Geschichte des Gemäldes

Die Geschichte des Gemäldes ist eng verbunden mit dem Rechtstreit kurz nach seiner Entstehung. Dadurch gibt es zwei Versionen. Die Version des Louvre gilt aus stilistischen Gründen als die originale Version. Bei der zweiten Version, die sich in London befindet, handelt es sich vermutlich um eine Werkstattarbeit, bei der Leonardo lediglich unterstützend beteiligt war.

Auch wenn zahlreiche Dokumente zur Entstehung des Gemäldes existieren, sind die damaligen Geschehnisse nicht sicher zu rekonstruieren, da die Dokumente große zeitliche Lücken aufweisen.

Der erste Auftrag in Mailand

Leonardo hatte Florenz im Jahr 1482 verlassen und ließ sich für fast zwei Jahrzehnte in Mailand nieder. Am 25. April 1483 unterzeichnete er den Vertrag für seinen ersten großen Auftrag in der neuen Stadt. Er sollte die zentrale Haupttafel des Altarbildes der Kapelle der Bruderschaft der Unbefleckten Empfängnis anfertigen. Die Kapelle gehörte zum Kirchenkomplex der San Francesco Grande. Dieser war nach einem kurz zuvor vollendeten Umbau die zweitgrößte Kirche in Mailand. Mailand selbst gehörte zu den sechs größten Städten Europas und war damals bereits eine Metropole. Der Auftrag hatte daher einen hohen Prestigewert.

Die Mönche konzipierten den Altar als Monument des Bekenntnisses zur unbefleckten Empfängnis der Maria. Der Orden war nach ihr benannt. Zu dem Auftrag gehörten auch zwei Seitentafeln, die Leonardo an zwei ortsansässige Maler delegierte, die Brüder Ambrogio und Evangelista de Predis. Außerdem sollten Vergoldungsarbeiten am Altar durchgeführt werden. Der Auftrag war mit 200 Dukaten durchschnittlich hoch vergütet, die über die Dauer von 20 Monaten in monatlichen Raten bezahlt werden sollten. Eine Klausel erlaubte eine spätere Nachzahlung, sollten die Kosten höher ausfallen. Die Höhe lag jedoch im Ermessen der Auftraggeber.

Beginn des Rechtsstreits

Der Auftrag war aus Sicht von Leonardos Werkstatt nach ungefähr zwei Jahren abgeschlossen (spätestens 1486), doch es kam zu einem Streit mit den Mönchen, die weniger nachzahlen wollten, als gefordert wurde. Sie boten 25, Leonardos Werkstatt forderte 100 Dukaten. Leonardos Haupttafel wurde daher nicht ausgeliefert.

Es ist eine Bittschrift Leonardos an den Mailänder Herzog bekannt, die auf 1491-1493 datiert wird, also bereits 8 Jahre nach Auftragsbeginn. Darin beschwert er sich über die Forderungen der Mönche, die „wie Blinde von der Farbe reden“ und fordert ein unabhängiges Gutachten zum Wert des Gemäldes oder aber, dass das Werk ihm überlassen wird, sollten sich die Mönche weiter weigern, den geforderten Preis zu zahlen. Denn er habe bereits einen Käufer für das Gemälde gefunden. Die Forschung ist sich einig, dass diese erste Version die aus dem Louvre ist und führt dafür stilistische Gründe an.

Ende des Rechtstreits

In der Folge des Streits wurde eine zweite Version angefertigt, wann genau ist unbekannt. Dieses zweite Gemälde wurde zusammen mit den Seitenflügeln der Brüder Predis den Mönchen 1506 präsentiert, von diesen erneut bemängelt und mit Fristsetzung auf zwei Jahre reklamiert. Erst im Jahr 1508, also 25 Jahre nach Auftragsbeginn, wurde die zweite Version den Mönchen übergeben und in den Altar eingesetzt. Der gesamte Altar umfasste noch 18 weitere, sehr viel kleinere Tafeln, die um Leonardos Beitrag herum angebracht wurden, aber von anderen Malern stammten. Die größten von ihnen maßen etwa 1/3 der Höhe der musizierenden Engel der Predis Brüder. Leonardos Gemälde war das zentrale Hauptwerk.

Die Londoner Version

Diese Version befand sich in der Kapelle der Mönche in der Kirche San Francesco Grande bis die Kapelle um 1576 abgerissen wurde. Danach verblieb das Gemälde im Besitz des Ordens der unbefleckten Empfängnis. 1785 wurde das Werk an einen englischen Kunstsammler verkauft und fortan mehrfach in England gehandelt. Der letzte private Besitzer war Sir Henry Charles Howard, 18. Earl of Suffolk, 11. Earl of Berkshire. Er verkaufte das Gemälde 1880 an die National Gallery in London. Auch die von den Brüdern Predis gefertigten Seitenflügel gelangten 1898 in ihren Besitz.

Die National Gallery in London stellt das Gemälde ganzjährig im Room 66 aus.

Die Version im Louvre

Was nach Fertigstellung mit der ersten Version der Felsgrottenmadonna passierte ist unklar. Es ist wahrscheinlich, aber nicht gesichert, dass das Gemälde in den Besitz des Mailänder Herzogs überging. Der Codex Magliabechiano, den viele als Manuskript des berühmten Leonardo Biografen Vasari ansehen, schreibt dazu:

„Er [Leonardo] malte ein Altarbild für Ludovico, den Herrscher von Mailand, und alle, die das Bild gesehen haben, erklären es für eines der schönsten und ungewöhnlichsten Werke, die man in der Malerei finden kann. Es wurde von besagtem Herzog an den Kaiser nach Deutschland geschickt“.

Es wird angenommen, dass mit diesem Altarbild die Felsgrottenmadonna gemeint ist, denn es ist nicht bekannt, dass Leonardo in Mailand an einem anderen Altarbild gearbeitet hat.

Hochzeitsgeschenk für den deutschen König

Der Mailänder Herzog Ludovica Sforza, Leonardos langjähriger Dienstherr, war unter dubiosen Umständen Herrscher von Mailand geworden und wollte seinen Titel durch eine Heirat mit dem deutschen Königshaus legitimieren. Das Herzogtum Mailand war zwar faktisch unabhängig, doch seit Jahrhunderten offiziell ein Lehen des deutschen Reichs.

Der Herzog erkaufte sich die unstandesgemäße Hochzeit seiner Nichte mit dem in Geldnot geratenen deutschen König Maximilian I. und wurde als Herzog von Mailand legitimiert. Der oben zitierten Aussage im Codex Magliabechiano zufolge könnte es sich bei der Felsgrottenmadonna also um eine Mitgift anlässlich der königlichen Hochzeit gehandelt haben. 1494 heiratete Bianca Maria Sforza den deutschen König, der ab 1508-1519 auch deutscher Kaiser war.

Hochzeitsgeschenk für den französischen König

Kaiser Maximilian I. stammte aus dem Haus Habsburg. Es wird angenommen, dass das Gemälde dann als Mitgift für Hochzeiten von Frauen aus dem Haus Habsburg nach Frankreich kam. In Frage kommen die Heirat des französischen Königs Franz I. mit Eleonore von Österreich (1530). Aber auch die des französischen Königs Karls IX. mit Elisabeth von Österreich (1570). Wobei die von Franz I. am wahrscheinlichsten ist, da er auch ansonsten alle Leonardo Gemälde erwarb, die sich heute im Louvre befinden. Er war von 1516-1519 der letzte Dienstherr von Leonardo und ein großer Bewunderer seiner Kunst.

Andere Erklärungen

Außer dem Eintrag im Codex Magliabechiano gibt es keine Belege für die Theorie von dem Hochzeitsgeschenk Ludovico Sforzas. Andere Ansätze sind, dass das Gemälde stets in Mailand verblieb und dort vom französischen Königshaus entweder gekauft oder konfiziert wurde, als sie 1499-1512 Mailand besetzten. Es könnte so auch wieder in den Besitz Leonardos gekommen sein, der von 1508-1512 für den französischen Statthalter von Mailand tätig war. Doch auch hier fehlt jeglicher Beleg.

In Frankreich

Die Louvre Version ist erstmalig 1625 in den königlichen Sammlungen auf Schloß Fontainebleau belegbar. Die Sammlung wurde um 1682 von Ludwig XIV. zum Schloss Versailles verbracht. Im Verlauf der französischen Revolution wurde sie schließlich in den Louvre überführt, wo sie seitdem öffentlich ausgestellt wird. 1806 wurde das Gemälde von einem Restaurator vorsichtig von der ursprünglichen Holztafel gelöst und auf Leinwand übertragen. 2011 wurden beide Versionen der Felsgrottenmadonna nebeneinander in der Londoner National Gallery of Art ausgestellt.

Die Felsgrottenmadonna befindet sich heute im Saal 710 in der Grande Galerie des Louvre.

Bedeutung für die Kunstgeschichte

Die Felsgrottenmadonna war in jeder Hinsicht ein revolutionäres Werk.

Zuvor ungekannte Qualität der Darstellung

Die Darstellung der Szenerie legte höchsten Wert auf naturgetreue Abbildung von Licht, Wasser, Gestein und Pflanzen, sowie dem Menschen. Eine solche Qualität war vorher bei weitem nie erreicht worden. Das erste eigenständige Werk Leonardos wurde schnell berühmt und in rascher Folge von anderen Malern kopiert, wobei die Qualität Leonardos nicht erreicht wurde.

Verzicht auf biblische Ikonographie

Leonardos Felsgrottenmadonna ist zudem das erste Werk, das eine eigentlich religiöse Szene von dieser Bedeutungsebene hinwegbringt und die Bedeutung der Figuren in eine neue Moderne überführt. Die Personen haben für sich genommen keinen biblischen Bezug mehr. Statt der Madonna, Jesus und Johannes, kann es sich um jede familiäre Szene handeln, da typische Ikonographie wie Heiligenscheine oder Stäbe und Kreuze weggelassen wurden. Dennoch stellt Leonardo durch subtile Symbolik einen biblischen Bezug her, so dass das Werk von seinen Zeitgenossen als Madonna mit Jesus und Johannes, sowie einem Engel verstanden werden musste.

Die Flügel des Engels

Leonardo wusste aus seinen Beobachtungen vom Vogelflug und stetigen Überlegungen zu Flugmaschinen, dass die Flügel des Engels viel zu klein und daher wenig flugfähig waren. Gleichzeitig war Leonardo bis dato als künstlerischer Mitarbeiter seines Lehrers Verrocchios für die Ausgestaltung und damit auch die Kostümierung höfischer Feste verantwortlich. In Erinnerung geblieben ist Leonardos großes Talent für besonders phantastisch anmutende Kostümierungen. So sollten die Flügel eines Engels in einem Leonardo Gemälde viel mehr als ein vermenschlichendes Kostüm gesehen werden, als dass sie einen religiösen Bezug herstellen. Leonardo ist für seine Naturphilosophie bekannt.

Das ist es dann auch, was der fantastische Engel durch den direkten Blick auf Betrachtende aufzuzeigen scheint. Es geht in Leonardos Malerei darum, etwas für die Ewigkeit zu schaffen, indem Wahrheiten aufgezeigt werden, die scheinbar ewig sind. Und was kann es ewigeres geben, als das Abbild einer behütenden Frau mit zwei Kindern vor Elementen der ewigen Natur. Einer Natur, die auf das Wesentlichste reduziert ist: Gesteine, Gewässer und dem entwachsende Pflanzen. Diese sehr naturbezogene Perspektive auf die Malerei nahm spätere Entwicklungen vorweg.

Anfang und Ende

Leonardo war etwa 30 Jahre alt, als er die Arbeiten an der Felsgrottenmadonna begann. Es war das erste eigenständige und vollendete Werk Leonardos. Als sein letztes Werk gilt die Darstellung von Johannes der Täufer (ab 1513). Dieser Zusammenhang beider Gemälde weist auf einen Gemäldezyklus hin. Die Felsgrottenmadonna zeigt den Johannes kurz nach seiner Geburt, zum Beginn seines Wirkens und Leonardos letztes Werk zeigt die mystische Verklärung des Täufers kurz vor dessen grausamen Ende. Das nährt die Vermutung, dass Leonardo alle seine sieben zweifelsfrei echten Gemälde über eine gemeinsame Erzählung miteinander verband. Es lässt sich nicht übersehen, dass sein Gesamtwerk rein formal eine Systematik erkennen lässt: zum einen chronologisch und zum anderen bezüglich der Bildgrößen.

Leonardo da Vinci – Alle zweifelsfrei echten Gemälde
Alle zweifelsfrei echten und vollendeten Gemälde Leonardos in einer virtuellen Galerie in ihren originalen Größenverhältnissen, von links nach rechts chronologisch sortiert. Die Felsgrottenmadonna als erstes eigenständiges vollendetes Werk, danach die beiden kleineren Porträts von der Dame mit dem Hermelin und der Belle Ferroniere. Das 9m breite Abendmahl ist das zentrale Hauptwerk Leonardos, das einzige Wandgemälde und damit unbeweglich. Kurz danach begann er mit den Arbeiten der Anna Selbdritt, dem dritten Gruppenbild, gefolgt von der Mona Lisa und Johannes dem Täufer, Leonardos letztem Werk. Den beiden großen Gruppenbildern, der Felsgrottenmadonna und der Anna Selbdritt folgten also je zwei kleinere Porträts. Der symbolisch deutende Zeigefinger befindet sich nur auf dem ersten und letzten Gemälde, sowie auf dem zentralen Abendmahl

Ausblick

Neben dem Abendmahl, dem zentralen Hauptwerk Leonardos, gilt nur ein weiteres Gruppenbild als echte eigenständige Arbeit Leonardos. Die Figuren der Anna Selbdritt werden häufig als Anna, Maria, Jesus und das Passionslamm erkannt. Doch auch dort zeigt sich unvoreingenommenen Betrachtern, dass Leonardo etwas zeitloses schaffen wollte, frei von den als temporär wahrgenommenen kuturellen Einflüssen der Religion. Denn auch hier fehlt jede eindeutig charakterisierende biblische Symbolik.

Der ist nicht universal, welcher nicht alle Dinge, die zur Malerei gehören, auf gleiche Weise liebt. Es gefallen einem beispielsweise die Landschaften nicht, er glaubt, sie seien ein Gegenstand, der in kurzer Zeit und mit Leichtigkeit zu erforschen ist. Wie unser Botticelli sagte, strengt man sich dafür vergeblich an, man brauche nämlich nur einen Schwamm, der mit verschiedenen Farben getränkt ist, an die Wand zu werfen, und der lasse dann dort einen Flecken zurück, in dem man eine schöne Landschaft erblicke.

Es stimmt wohl, daß man in einem solchen Flecken verschiedene phantastische Gebilde dessen sehen kann, was man in ihm suchen will, das heißt Menschenköpfe, verschiedene Tiere, Schlachten, Felsklippen, Meere, Wolken, Wälder und andere ähnliche Dinge mehr. Und es geschieht wie beim Klang der Glocken, aus dem du heraushören kannst, was dir gefällt.

Aber mögen diese Flecken auch deine Phantasie anregen, so lehren sie dich doch in keiner Weise, wie man eine Einzelheit ausarbeitet. Und der erwähnte Maler machte sehr dürftige Landschaften.

Leonardo da Vinci Codex Urbinas (Vatikanische Bibliothek), folio 33 (verso), folio 34 (recto)

Unter diesen Vorschriften soll aber eine neue Erfindung in der überlegenden Betrachtung nicht fehlen, die, wenn sie auch ärmlich und beinahe lächerlich erscheint, dennoch von größtem Nutzen ist, den Geist zu mannigfachen Erfindungen anzuregen.

Und das geschieht, wenn du manches Gemäuer mit verschiedenen Flecken oder mit einem Gemisch aus verschiedenartigen Steinen anschaust. Wenn du dir gerade eine Landschaft ausdenken sollst, so kannst du dort Bilder verschiedener Landschaften mit Bergen, Flüssen, Felsen, Bäumen, großen Ebenen, Tälern und Hügeln verschiedener Arten sehen. Ebenso kannst du dort verschiedene Schlachten und Gestalten mit lebhaften Gebärden, seltsame Gesichter und Gewänder und unendlich viele Dinge sehen, die du dann in vollendeter Form und guter Gestalt wiedergeben kannst.

Mit solchem Gemäuer und Steingemisch geht es wie mit den Kirchenglocken, du findest in ihrem Schlagen jeden Namen und jedes Wort, das du dir vorstellst.

Leonardo da Vinci Pariser Manuskripte (A), folio 102, verso

Quellen

Websites der ausstellenden Museen: Louvre-Museum, Paris und National Gallery, London

Frank Zöllner, Leonardo, Taschen (2019)

Martin Kemp, Leonardo, C.H. Beck (2008)

Charles Niccholl, Leonardo da Vinci: Die Biographie, Fischer (2019)

Johannes Itten, Bildanalysen, Ravensburger (1988)

Die Bibel, Einheitsübersetzung, Altes und Neues Testament, Pattloch Verlag (1992)

Besonders empfehlenswert

Marianne Schneider, Das große Leonardo Buch – Sein Leben und Werk in Zeugnissen, Selbstzeugnissen und Dokumenten, Schirmer/ Mosel (2019)

Leonardo da Vinci, Schriften zur Malerei und sämtliche Gemälde, Schirmer/ Mosel (2011)

Nobody is perfect - das gilt auch für nicofranz.art!

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