Das Lamm ist ein Symbol für Jesus Christus. In der Bibel wird Jesus von Johannes dem Täufer als "Lamm Gottes" bezeichnet (Joh 1,29). In der Johannesoffenbarung (Apokalpyse des Johannes) erscheint Jesus im Himmel dann nicht mehr als Mensch, sondern als Lamm. Überraschenderweise hat das Lamm der Johannesoffenbarung sieben Augen. Sie entsprechen dort den sieben Geistern Gottes, die über die ganze Erde ausgesandt sind (Offb 5,6).
Dass der Jesusknabe mit dem Lamm spielt, wird häufig als Verweis auf sein kommendes Leiden gesehen. Denn Jesus zog als Lamm Gottes nach Jerusalem und opferte sich dort, um die Menschheit zu erlösen.
Zeigt das Gemälde nicht Jesus sondern Johannes den Täufer?
Johannes der Täufer hatte für Leonardo eine besondere Bedeutung, denn er ist bis heute der Schutzpatron seiner Heimatstadt Florenz und z.B. auf allen Florentiner Münzen dieser Zeit abgebildet, zahlreiche Gebäude in Florenz sind nach ihm benannt. Auch das letzte Gemälde Leonardos zeigt Johannes den Täufer.
Dass Leonardo die Anna selbdritt formal und inhaltlich mit der Felsgrottenmadonna verbindet (Bezug zum Protoevangelium des Jakobus, das ähnlich große Bildformat, die sieben Augen) lässt eine weitere Deutung von Knabe und Lamm zu. Eines der charakteristischsten Merkmale von Leonardos Felsgrottenmadonna ist die Uneindeutigkeit der Figuren. Es ist nicht klar erkennbar, welcher der beiden Knaben Jesus bzw. Johannes der Täufer sein soll. Das wurde von den auftraggebenden Mönchen als sehr ketzerisch empfunden und daher musste eine zweite Version angefertigt werden.
Das Gemälde Anna selbdritt ist in dieser Hinsicht ebenfalls doppeldeutig. Das Lamm Gottes und den Jesusknaben zugleich darzustellen, ist ungewöhnlich, da Jesus so mit seinem eigenen Symbol spielt. Die frühen Entwürfe des Gemäldes zeigen neben Anna und Maria, zwar ebenso Jesus, doch zunächst kein Lamm, sondern den Knaben Johannes den Täufer (Burlington House Karton links, Klick auf Button für Rückseite).
Es liegt daher nahe zu vermuten, dass Leonardo in der Anna selbdritt tatsächlich nicht den Jesus, sondern Johannes den Täufer zeigt, der mit einem Lamm spielt, also dem Symbol für Jesus Christus. Dieser Gedanke verstärkt sich in der Tatsache, dass es sowohl in der Felsgrottenmadonna als auch in der Anna selbdritt das Auge des Jesus, sowie des Lamms ist, dass als einziges verdeckt ist. Demnach hätte sich der Jesus der Felsgrottenmadonna in das Lamm der Anna selbdritt verwandelt. Analog hätten dann die Johannesknaben der beiden Gemälde als jeweils einzige Personen ein auffällig stark schattiertes Auge.