Leonardo da Vinci – Anna Selbdritt

Anna selbdritt

Anna selbdritt ist das letzte großformatige Gemälde Leonardo da Vincis. Das Gemälde wird auf 1502-1519 datiert und befindet sich heute im Pariser Louvre. Es zeigt die Jungfrau Maria, die auf dem Schoß ihrer Mutter Anna sitzt und nach Jesus greift, der mit einem Lamm spielt. Selbdritt ist eine veraltete Bezeichnung für 'zu dritt (dargestellt)'. 

 

Das Nichts hat keinen Mittelpunkt und endet im Nichts.

Leonardo da Vinci
Leonardo da Vinci – Anna Selbdritt
Leonardo da Vinci – Anna Selbdritt Burlington House Cartoon

Der Burlington House Karton wird auf der Rückseite gezeigt (dritter Button von rechts)

#

Fotografie des Gemäldes ohne Rahmen
Um 1800 wurden seitlich an dem Gemälde je eine Leiste angebracht und in ähnlichen Farben bemalt. Heute sind sie hinter dem Rahmen verborgen. Der für diese Analyse verwendete Ausschnitt wird durch einen weißen Rand gekennzeichnet (Mouseover/ Tap)

I

Wie in seinen anderen Gemälden betont Leonardos Bildkomposition auch hier die Augen. Die obere Bildhälfte lässt sich vierteln, so dass die Horizontalen sich jeweils auf der Höhe des linken Auges der Anna, der Maria und des Jesusknaben befinden. Das oberste Viertel schließt die Baumkrone ab (rote Horizontalen). Das linke Auge des Jesus Knaben befindet sich zudem auf einem Viertel der Bildbreite (rote Vertikale), ebenso wie der linke Rand des Baums (grüne Schattierung). Die Strecke zwischen dem linkem Auge Annas und dem des Jesusknaben teilt sich genau im linken Auge der Maria (schwarz/weiße Diagonale).

II

Leonardo verwendete den goldenen Schnitt. Der Höhe nach verläuft er durch das linke Auge des Lamms. Der Breite nach durch den linken großen Zeh der Anna. Der Blick der Maria zum (nicht sichtbaren) rechten Auge des Lamms beträgt 60° (Innenwinkel eines regelmäßigen 3-Ecks). Die Strecke teilt den Mund des Jesusknaben im goldenen Schnitt (blau/orange Diagonale). Diese und die Strecke vom rechten Auge des Lamms zum linken großen Zeh der Anna bilden den Innenwinkel eines regelmäßigen 5-Ecks (108° Winkel, blaue Schattierung). Die Strecke zum rechten Zeh der Anna beträgt von der orangenen Vertikalen aus 72° (Mittelpunktswinkel eines regelmäßigen 5-Ecks, orange Diagonale). Diese Strecke und die blaue Diagonale sind im Verhältnis des goldenen Schnitts angelegt

III

coming soon

A

Das Gemälde wurde im 18. Jh. oben und unten beschnitten. Die ursprünglichen Abmessungen sind durch einen Archiveintrag bekannt und decken sich mit den Maßen einer zeitgleichen Kopie aus Leonardos Werkstatt (Hammer Museum, L.A.). Obwohl Leonardo den Entwurf mehrfach anpasste, scheint die Position des Jesuskindes grundsätzlich gleich geblieben zu sein (Mouseover/Tap). Daher lassen sich die fehlenden Stücke des Originals rekonstruieren

x

Anna selbdritt
Leonardo da Vinci
um 1502-1519
Öl auf Holz (Pappel)
168 × 113 cm (später auf 168 × 130cm verbreitert)
Paris, Musée du Louvre

Anna selbdritt (Burlington House Karton)
Leonardo da Vinci
um 1499-1502
Kohle mit weißer Kreide auf Papier und auf Leinwand aufgezogen,
141,5 × 104,6cm
London, National Gallery

Bildbeschreibung

Im Vordergrund ein felsiger, rötlich brauner Boden. Er endet vor einem Abgrund. Die Landschaft zeigt Berggipfel, Gletscher und Täler, in denen sich Gebirgsbäche sammeln. Rechts am Hang eines Hügels ein sehr dunkler Baum. In der Bildmitte die heilige Anna. Sie trägt ihr Haar geflochten. Darüber eine bekränzte Haube aus geflochtenem Stoff, von der zwei übereinandergelegte durchsichtige Schleier zu den Schultern hinunter führen. Sie hält die Augen gesenkt und lächelt. Auf ihren Knien die Jungfrau Maria. Sie trägt ein bauschiges rosa Kleid mit einem tiefen Dekolleté, an das beinah durchsichtig gewobene Ärmel angesetzt wurden. Ihr linker Arm und ihre Beine sind von einem blauen Mantel verhüllt. Maria beugt sich zu Jesus, einem Kleinkind von 2-3 Jahren. Es ist nackt, lockig und versucht gerade über ein sich sträubendes Lamm zu steigen.

Die heilige Anna

Die heilige Anna war die Mutter von Maria, der Mutter von Jesus Christus. Anna ist somit die Großmutter von Jesus.

Das Leben der Anna

Über die Kindheit und Jugend der Anna ist nichts überliefert. Sie war mit dem Hirten Joachim verheiratet, der sehr reich war. Doch auch nach 20 Jahren Ehe hatten sie keine Kinder bekommen, worüber beide sehr traurig waren. Als sich Anna eines Tages unter einen Lorbeerbaum setzte, erblickte sie darin ein Spatzennest und begann ein poetisches Klagelied:

"[...] Wehe mir, wem wurde ich gleich?
Ich wurde nicht gleich den Vögeln des Himmels,
denn auch die Vögel des Himmels sind fruchtbar vor dir, Herr. [...]"

Daraufhin erschien ein Engel und verkündete Anna die wundersame Schwangerschaft. Sie schwor daraufhin, das Leben ihrer Tochter Gott zu widmen. Im siebten Monat nach der Verkündigung gebar sie ihre Tochter Maria.

Um Maria rein zu halten, ließ Anna sie nicht den Erdboden berühren und richtete ihr einen heiligen Raum ein. Unterhalten wurde Maria von den keuschen Töchtern Israels. An Marias erstem Geburtstag wurde ein großes Fest gegeben und das Kind wurde unter den Augen des Volkes von den Priestern gesegnet: "Gott der Himmels­höhen, blicke herab auf dieses Mädchen und segne es mit dem höchsten Segen, den nichts übertrifft".

Als Maria drei Jahre alt wurde, übergaben Anna und Joachim sie in den Tempel. Hier enden die Erwähnungen von Anna. Im Zusammenhang mit der Geburt von Jesus, ihrem Enkel, wird sie nicht erwähnt.

Eine nichtbiblische Person

Die heilige Anna wird in der Bibel nicht erwähnt. Erzählungen über ihr Leben lassen sich nur in außerbiblischen Schriften finden, den Apokryphen. Das sind Erzählungen mit Bezug zum Leben des Jesus, die aber von den Kirchengründern nicht als wichtig genug erachtet worden sind, um in die Bibel aufgenommen zu werden. Teilweise widersprechen sie auch der gängigen Kirchenlehre, z.B. wurde laut dem Protoevangelium des Jakobus Jesus nicht in einem Stall, sondern in einer felsigen Höhle geboren.

Die beiden wichtigsten Quellen zur heiligen Anna sind das Protoevangelium des Jakobus (um 150 n. Chr) und das Pseudo-Evangelium des Matthäus (um 600 n. Chr.). Beide Schriften sind sich in Aufbau und Struktur sehr ähnlich, wobei letztere etwas detaillierter berichtet. Mit der Legenda Aurea im 12. Jh. und den Annenviten im 15. Jh. entstanden zwei weitere bekannte Schriften zum Leben der heiligen Anna. Sie fügen z.B. spätere Ehen der heiligen Anna hinzu.

Bezug zur Felsgrottenmadonna

Neben dem riesigen Abendmahl malte Leonardo nur zwei weitere großformatige Gemälde, die ihm zweifelsfrei zugeschrieben werden können, die Anna selbdritt und die etwa 15 Jahre zuvor entstandene Felsgrottenmadonna. Beide Gemälde beziehen sich auf das nichtbiblische Protoevangelium des Jakobus.

Leonardo da Vinci – virtuelle Galerie aller zweifelsfrei echten und vollendeten Gemälde
Schematische Darstellung aller zweifelsfrei echten und vollendeten Gemälde Leonardos in einer virtuellen Galerie in ihren originalen Größenverhältnissen, von links nach rechts chronologisch sortiert.
Die neben dem Abendmahl einzigen großformatigen Gemälde Felsgrottenmadonna und Anna selbdritt beziehen sich beide auf das Protoevangelium des Jakobus

Schutzheilige von Florenz

In Leonardos Heimatstadt Florenz wurde die heilige Anna als Schutzheilige verehrt. Der Annenkult in Florenz erinnerte dort an die Vertreibung des französischen Adeligen Walter VI. von Brienne. Er wurde 1342 von den florentinischen Kaufleuten zum Stadtoberhaupt der Republik Florenz ernannt, entpuppte sich jedoch bald als Despot und wurde am 26.7. des Jahres 1343 aus Florenz vertrieben, dem Namenstag der Anna (Annentag).

 

Darstellungen in der Malerei

Mit der zunehmenden Verehrung Marias im späten Mittelalter (13.-15.Jh) wurde auch ihre Mutter Anna mehr und mehr Gegenstand des Interesses der Gläubigen. Daher sind Darstellungen der Anna selbdritt, das heißt Anna zu dritt mit Maria und Jesus ein häufiges Motiv der Malerei zur Zeit der Renaissance. Dies gilt insbesondere für Florenz, wo die heilige Anna zudem als Schutzheilige verehrt wurde.

Die Darstellung einer Anna selbdritt ist im biblischen Kontext nur symbolisch, da die heilige Anna weder in der Bibel noch in einem apokrpyhen Text im zeitlichen Zusammenhang mit Jesus genannt wird. Sie war also vermutlich bereits verstorben, als er geboren wurde.

Üblicherweise war die Darstellung hierarchisch, das heißt die Köpfe der Figuren waren entweder direkt übereinander oder diagonal angeordnet, um die familiäre Abstammung zu veranschaulichen. Die Großmutter Anna oben, darunter die sitzende Maria mit dem Jesuskind auf dem Schoß. Mit der Zeit und nicht zuletzt durch Leonardos Einfluss wurde die starre Anordnung in folgenden Malergenerationen immer mehr aufgebrochen und ging in eine dynamischere Darstellung über.

Mitteltafel des Altars der heiligen Anna, Quentin Massys, um 1507 (Ausschnitt)
Der niederländische Maler Massys ist heute unter anderem dafür bekannt, Elemente aus Leonardos Gemälden und Zeichnungen übernommen zu haben, z.B. sein Porträt "Eine groteske alte Frau".
In einer seiner frühen Versionen der Anna selbdritt ordnet Massys die Figuren V-förmig an. Maria und Anna sitzen gleichbedeutend nebeneinander, das Jesuskind dazwischen. Seine Anna (rechts) wirkt im Vergleich zu den beiden oberen Gemälden femininer

Trinität und heilige Familie

Rein Formal ähneln Darstellungen der Anna selbdritt zwei weiteren sehr verbreiteten Darstellungen: Zum einen dem Motiv der Trinität ('Dreieinigkeit'), das heißt der Darstellung von Gottvater, seinem Sohn Jesus und dem heiligen Geist, der meist in Form einer Taube dargestellt wird. Die drei Bildfiguren werden dann ebenfalls hierarchisch übereinander gestellt. Zum anderen ähnelt das Motiv der Anna selbdritt dem der heiligen Familie aus Josef, Maria und Jesus. Es lässt sich zeigen, dass die Maler von jeher mit der formalen Ähnlichkeit der Motive gespielt haben.

Ausblick

Es wird sich zeigen, dass Leonardos Gemälde, die bis dahin tradierten Motive von Trinität, heiliger Familie und Anna selbdritt aufnimmt, vereint und weiterentwickelt. Dadurch wird deutlich werden, das Leonardos Anna selbdritt, wie für seine Gemälde typisch, nicht nur die Anna selbdritt zeigt, sondern das in dem Gemälde verschiedene Motive zu einem Bild verdichtet wurden

Symbolik

Die Landschaft

Die verwendeten Farben der Hintergrundlandschaft verweisen auf die Elemente Wasser und Erde. Den orangenen Erdtönen der unteren Bildhälfte wird in der oberen Bildhälfte ein eisfarbendes Blau gegenübergestellt. Es handelt sich um Komplementärfarben, d.h. auf einem Farbkreis liegen die Farben einander gegenüber. Ein dunkel gemalter Baum wächst am Übergang der beiden Farben.

Die karge Landschaft selbst bezieht sich auf das Klagelied der Anna aus dem Protoevangelium des Jakobus:

"[...] Wehe mir, wem wurde ich gleich?
Ich wurde nicht gleich diesen Wassern,
denn auch die Wasser sind fruchtbar vor dir, Herr.

Wehe mir, wem wurde ich gleich?
Ich wurde nicht gleich dieser Erde,
denn auch die Erde bringt zur gegebenen Zeit ihre Früchte hervor und preist dich, Herr [...]".

Leonardo nimmt auf diese Zeilen Bezug und reduziert die Hintergrundlandschaft auf das Motiv der Erde und des Wassers aus Annas Klagelied. Die Ödnis der Landschaft ist somit ein Symbol für die Unfruchtbarkeit der Anna. Der Symbolik der Unfruchtbarkeit wird ein großer lebender Baum gegenübergestellt. Er verweist auf die Verkündigung der wundersamen Schwangerschaft Annas, die sie unter einem Baum sitzend von einem Engel empfangen hat. Der Baum ist somit ein Symbol der Hoffnung und des Glaubens in einer trostlosen Umgebung.

Anna selbdritt (Detail)
Gestein und Wasser sind Hauptmotiv der Landschaft im Hintergrund. Die unbändige Kraft des Wassers wird durch gewaltige Wasserfälle verdeutlicht
Anna selbdritt (Detail)
Auch zu Füßen des Baumes ist ein reißender Strom zu erkennen, der von einer Brücke überspannt wird

Der Baum

Doch der Baum hat noch eine weitere Bedeutung. Im Zusammenhang mit der Anwesenheit des Jesuskindes verweist der auffallend dunkel gehaltene Baum auf die Erbsünde. In der biblischen Vorstellungswelt lebten die ersten Menschen, Adam und Eva, solange in einem Paradies, bis sie von einer Schlange dazu überredet wurden, vom Baum der Erkenntnis zu essen, obwohl Gott ihnen dies verboten hatte. Gott vertrieb die Menschen daraufhin aus dem Paradies. Die damit beginnde Unheilsgeschichte von der die Bibel berichtet, sollte in Jesus Christus ihr Ende finden. Durch sein Opfer sollte er die Verfehlung der ersten Menschen gegen Gott aufheben und die Menschheit erlösen.

Der Umhang

Die Kleidung der Maria ist in den typischen Farben der Marienbilder angelegt. Der Umhang der Madonna wird traditionell blau dargestellt, das darunterliegende Kleid meist in rot. Einzigartig ist jedoch die Art, in der Leonardo den Umhang der Maria gestaltet. Denn sie lässt ihre rechte Schulter frei und hat ihn über ihren linken Arm geworfen. Diese Art einen Umhang zu wickeln entspricht der Trageweise der antiken Toga. Eine Toga durfte nur von römischen Bürgern getragen werden. Für Frauen allerdings galt das Tragen einer Toga als zu freizügig und damit unanständig.

Leonardo befasste sich mit den antiken Geschichtsschreibern und kannte zahlreiche Statuen aus der griechisch-römischen Antike. In seinem letzten Gemälde lässt Leonardo seinen Johannes den Täufer ebenfalls eine Toga tragen. Der Täufer hält sich die Toga vor den Bauch, in derselben Art, wie es römische Redner taten, um besonders viel Würde auszustrahlen. Leonardo kannte also solche Details antiker Gepflogenheiten. Es ist insofern rätselhaft, dass er die Madonna in dieser Art darstellt.

Die Augen

Wie in allen Leonardo Gemälden haben die Augen auch hier eine besondere Bedeutung (die geometrischen Zusammenhänge sollen zunächst außen vor gelassen werden). Die Darstellung zeigt insgesamt vier Figuren. Bei dreien von ihnen sind beide Augen sichtbar. Nur bei dem Lamm ist das rechte Auge verdeckt. Somit sind lediglich sieben der acht Augen zu sehen. Die Zahl Sieben ist im biblischen Kontext eine besonders symbolische Zahl. Am bekanntesten sind die sieben Tage in denen Gott die Erde erschaffen hat.

Die Anzahl der sieben sichtbaren Augen in der Anna selbdritt entspricht genau der Anzahl der sichtbaren Augen der Felsgrottenmadonna. Dort sind ebenfalls vier Figuren dargestellt, von denen aber nur eine das rechte Auge verdeckt hat. Und diese Figur ist auch dort unter den anderen positioniert wurden. Das demonstriert erneut den Zusammenhang dieser beiden großformatigen Gemälde Leonardos.

Leonardo da Vinci – Felsgrottenmadonna
Felsgrottenmadonna, Leonardo da Vinci, 1483-1486
Wie bei der Anna selbdritt sind hier nur sieben Augen zu sehen. Doch ist es nicht das Auge des Lamms, das verdeckt wird, sondern das des Jesusknaben (rechts). Das linke Auge des Johannesknaben (links) liegt zwar im Schatten, ist aber grundsätzlich sichtbar

Das Lamm

Das Lamm ist ein Symbol für Jesus Christus. In der Bibel wird Jesus von Johannes dem Täufer als "Lamm Gottes" bezeichnet (Joh 1,29). In der Johannesoffenbarung (Apokalpyse des Johannes) erscheint Jesus im Himmel dann nicht mehr als Mensch, sondern als Lamm. Überraschenderweise hat das Lamm der Johannesoffenbarung sieben Augen. Sie entsprechen dort den sieben Geistern Gottes, die über die ganze Erde ausgesandt sind (Offb 5,6).

Dass der Jesusknabe mit dem Lamm spielt, wird häufig als Verweis auf sein kommendes Leiden gesehen. Denn Jesus zog als Lamm Gottes nach Jerusalem und opferte sich dort, um die Menschheit zu erlösen.

Zeigt das Gemälde nicht Jesus sondern Johannes den Täufer?

Johannes der Täufer hatte für Leonardo eine besondere Bedeutung, denn er ist bis heute der Schutzpatron seiner Heimatstadt Florenz und z.B. auf allen Florentiner Münzen dieser Zeit abgebildet, zahlreiche Gebäude in Florenz sind nach ihm benannt. Auch das letzte Gemälde Leonardos zeigt Johannes den Täufer.

Dass Leonardo die Anna selbdritt formal und inhaltlich mit der Felsgrottenmadonna verbindet (Bezug zum Protoevangelium des Jakobus, das ähnlich große Bildformat, die sieben Augen) lässt eine weitere Deutung von Knabe und Lamm zu. Eines der charakteristischsten Merkmale von Leonardos Felsgrottenmadonna ist die Uneindeutigkeit der Figuren. Es ist nicht klar erkennbar, welcher der beiden Knaben Jesus bzw. Johannes der Täufer sein soll. Das wurde von den auftraggebenden Mönchen als sehr ketzerisch empfunden und daher musste eine zweite Version angefertigt werden.

Das Gemälde Anna selbdritt ist in dieser Hinsicht ebenfalls doppeldeutig. Das Lamm Gottes und den Jesusknaben zugleich darzustellen, ist ungewöhnlich, da Jesus so mit seinem eigenen Symbol spielt. Die frühen Entwürfe des Gemäldes zeigen neben Anna und Maria, zwar ebenso Jesus, doch zunächst kein Lamm, sondern den Knaben Johannes den Täufer (Burlington House Karton links, Klick auf Button für Rückseite).

Es liegt daher nahe zu vermuten, dass Leonardo in der Anna selbdritt tatsächlich nicht den Jesus, sondern Johannes den Täufer zeigt, der mit einem Lamm spielt, also dem Symbol für Jesus Christus. Dieser Gedanke verstärkt sich in der Tatsache, dass es sowohl in der Felsgrottenmadonna als auch in der Anna selbdritt das Auge des Jesus, sowie des Lamms ist, dass als einziges verdeckt ist. Demnach hätte sich der Jesus der Felsgrottenmadonna in das Lamm der Anna selbdritt verwandelt. Analog hätten dann die Johannesknaben der beiden Gemälde als jeweils einzige Personen ein auffällig stark schattiertes Auge.

Bildkomposition

Ursprüngliche Abmessungen

Die ursprüngliche Bildhöhe

Aus den Inventaren der königlichen Sammlungen geht hervor, dass das Gemälde zwischen 1683 und 1752 in in der Höhe beschnitten wurde. Statt der heutigen Höhe von 168 cm maß das Gemälde demnach ursprünglich 176 cm.

Der bekannte Maler Charles Le Brun (1619-1690) erhielt im 17.Jh. den Auftrag, einen Katalog der königlichen Sammlung anzulegen. Der auf 1683 datierte Katalog erwähnt Leonardos Anna selbdritt und gibt die Höhe des Gemäldes mit 176 cm an. Dies entspricht in etwa der Höhe mehrerer zeitgleicher Kopien aus Leonardos Werkstatt, u.a. der sogenannten "Hammer Version" aus dem Hammer Museum in Los Angeles. In einem zweiten Katalog aus dem Jahr 1752, der von dem Maler Lépicié erstellt wurde, wird die Höhe mit dem heutigen Maß von 168 cm angegeben. Es ist daher wahrscheinlich, dass das Gemälde zwischen 1683 und 1752 beschnitten wurde.

Anlässlich einer Sonderausstellung zum Abschluss der Restaurierung des Gemäldes veröffentlichte der Louvre 2012 einen Katalog, in dem die Version des Louvre Museums mit der aus dem Hammer Museum in Los Angeles verglichen wird (S. 367). Das Gemälde in Los Angeles hat demnach in der Höhe eine Malschicht von 175,6 cm und dann zwei nackte Ränder von jeweils 1 cm. Die Überlagerung der beiden Kompositionen auf der Höhe der Figuren zeigt, dass dem Gemälde im Louvre bei gleichem gemalten Format oben etwa 2,8 cm und unten 4,8 cm fehlen würden A
2,8 cm + 4,8 cm = 7,6 cm
7,6 cm + 168 cm = 175,6 cm
Der Louvre verweist darauf, dass die alten Inventarlisten nicht immer millimetergenaue Maße angeben. Le Brun könnte demnach bei seinen Angaben schlicht auf 176 cm gerundet haben.

Die ursprüngliche Bildbreite

Wie die Bildhöhe entspricht auch die heutige Bildbreite nicht dem originalen Zustand des Gemäldes. 1825 wurden dem Gemälde bei Restaurierungsarbeiten links und rechts zwei etwa 8cm breite Panele hinzugefügt und mit den Farben des Gemäldes bemalt #. Die sich heute farblich stark vom Gemälde unterscheidenden Panele werden in der aktuellen Ausstellung hinter dem Rahmen verborgen.

Fazit

Das Gemälde hatte mit den ursprünglichen Maßen ein Format von etwa 2:3, analog zu der in etwa zeitgleich entstandenen Mona Lisa, deren Format ebenfalls etwa 2:3 beträgt. Die Übereinstimmung der Formate dieser beiden in Florenz entstandenen Gemälde erinnert an zwei weitere berühmte Porträts, die zweifelsfrei Leonardo zugeschrieben werden. Denn auch die zuvor in Mailand entstandenen Gemälde Dame mit dem Hermelin und La Belle Ferroniere haben dasselbe Format. Sie zeigen mit etwa 3:4 eine annähernd gleiches Größenverhältnis. Leonardo hat großen Wert auf Proportion und Harmonie gelegt. Die Übereinstimmung der Bildformate ist damit ein weiterer Hinweis darauf, dass es einen Zusammenhang der zweifelsfrei echten Gemälde Leonardos gibt, sie möglicherweise sogar als Gemäldezyklus angelegt sind.

 

I Stetige Halbierung

Hinsichtlich der Bildkomposition hat Leonardo das Gemälde stetig halbiert, bzw. geviertelt. Das wird – wie auch bei allen anderen Leonardo Gemälden – an der Position der Augen deutlich.

  • Das linke Auge des Jesuskindes befindet sich genau auf der Hälfte der Bildhöhe (untere rote Horizontale)
  • Das linke Auge der Maria befindet sich auf dem ersten Viertel der oberen Bildhälfte (zweite rote Horizontale von unten)
  • Das linke Auge der Anna befindet sich auf dem zweiten Viertel der oberen Bildhälfte (dritte rote Horizontale von unten)
  • Die Krone des Baums befindet sich auf den dritten Viertel der oberen Bildhälfte (obere rote Horizontale)

Die Betonung des Viertels setzt sich in der Vertikalen fort

  • Das linke Auge des Jesuskindes befindet sich genau auf dem ersten Viertel von rechts (rote Vertikale)
  • Die Krone des Baums befindet sich ebenfalls auf dem ersten Viertel von rechts (rote Vertikale)

Außerdem kommt es zu einer Halbierung

  • Das rechte Auge Annas, das linke Marias und das linke des Jesuskindes befinden sich auf einer Linie (schwarz/weiße Diagonale)
  • Die Mitte dieser Linie befindet sich in Marias Auge

Leonardo hat also mit Hälfte, Viertel und Achtel eine kontinuierliche Halbierung der Proportionen vorgenommen, wobei er die Augen der drei Personen und den Baum im Hintergrund betont. Außerdem wurde deutlich, das Leonardo das Gemälde harmonisch in drei Stufen teilte:

Hälfte

  • Hinsichtlich des Abstandes der Augen der drei Personen und der Bildhöhe betont Leonardo mit dem linken Auge Marias und des Jesuskindes die Hälfte

Viertel

  • Hinsichtlich der Bildbreite und der Bildhöhe teilt er das Gemälde in Viertel und betont das linke Auge Annas und des Jesuskindes, sowie den Baum im Hintergrund

Achtel

  • Hinsichtlich der Bildhöhe teilt er das Gemälde in Achtel, betont aber nur einen Bereich von 3/8 in der oberen Bildhälfte. In diesem Bereich befinden sich die Augen der drei Personen und der Baum im Hintergrund. Zugleich sind damit hinsichtlich der stetigen Habierung 5/8 der Bildhöhe unbetont. Die Zahlen 3,5 und 8 gehören zur sogenannten Fibonacci-Folge und stehen damit im direkten Zusammenhang zum goldenen Schnitt

II Goldener Schnitt

Das Auge des Lamms

  • Das linke Auge des Lamms befindet sich im goldenen Schnitt der Bildhöhe (orange Horizontale)

Leonardo hat die Augen des Lamms bewusst aus dem Zusammenhang der stetigen Halbierungen herausgehalten und sich zugleich einen mathematischen Scherz erlaubt: Das linke Auge des Lammes verfehlt hinsichtlich der Bildhöhe nur knapp den Abstand von 5/8 in Bezug auf den oberen Bildrand (der des Jesuskindes liegt bei 4/8). Vielmehr befindet sich das linke Auge des Lamms im goldenen Schnitt der Bildhöhe. Die Nähe ergibt sich rechnerisch:

5/8 = 62,5% der Bildhöhe
goldener Schnitt = ~61,8% der Bildhöhe

5/8 und goldener Schnitt liegen mit einer Differenz von 0,7% der Bildhöhe also recht eng beieinander, jedoch weit genug auseinander, um optisch unterschieden werden zu können. Es handelt sich um einen für Leonardos Bildkompositionen typischen Scherz, das Auge des Lammes eben genau so zu versetzen, dass mit dem goldenen Schnitt aus der stetigen Halbierung ein neuer geometrischer Zusammenhang entsteht. Doch das linke Auge des Lammes stellt nicht den einzigen Bezug zum goldenen Schnitt dar.

Weitere Beziehungen

  • Über beide Augen der Maria führt eine Linie zum rechten Auge des Schafes. Das rechte Auge des Schafes ist zwar nicht zu erkennen, doch seine Position ist plausibel annehmbar. Diese Strecke hat einen Winkel von 60°, dem Innenwinkel eines gleichseitigen Dreiecks (blau/orange Diagonale). Der Mund des Jesuskindes befindet sich im goldenen Schnitt dieser Strecke
  • Der linke große Zeh der Anna liegt im goldenen Schnitt der Bildbreite (orange Vertikale)
  • Der Winkel aus rechtes Auge der Maria, rechtes Auge des Schafes und linker großer Zeh der Anna beträgt 108°, dem Innenwinkel eines regelmäßigen Fünfecks (blaue Schattierung). Ein regelmäßiges Fünfeck kann nur über den goldenen Schnitt konstruiert werden
  • Von der Vertikalen durch den linken Zeh der Anna führt ein 72° Winkel zu ihrem rechten Zeh. 72° ist der Mittelpunktswinkel eines regelmäßigen Fünfecks (orange Diagonale)
  • Der Abstand der Zehen der Anna und der Abstand vom rechten Auge des Lamms zum linken Zeh der Anna stehen zueinander im goldenen Schnitt (orange und blaue Diagonale)

Die Diagonalen scheinen in ihrer Gesamtheit und im Kontext des goldenen Schnitts ein regelmäßiges 5-Eck anzudeuten, das aber aufgrund der bereits bekannten Innenwinkel nicht in einen 3-dimensionalen Raum konstruierbar ist. Es ist für Leonardos Bildkompositionen überraschend, dass das Netz der geometrischen Beziehungen des goldenen Schnitts hier endet. Üblicherweise bilden seine diesbezüglichen Bildkompositionen ein zusammenhängendes Ganzes. Hier aber lässt er sie unerwartet im rechten Zeh der Anna enden.

III Doppelbilder

Bildinterpretation

Coming soon

Geschichte des Gemäldes

coming soon

Mögliche Auftraggeber

Französisches Königshaus

Anna de Bretagne (Königin von Frankreich 1489-1491 und 1498-1514), Buchmalerei von Jean Burdichon (Hofmaler), um 1508
Leonardo unterhielt enge Beziehungen mit dem französischen Königshaus. Das und die Namensgleichheit der Königin mit der Heiligen Anna gaben Anlass zu der Vermutung, Leonardo hätte das Werk im Auftrag des französischen Königs gemalt

Mönche der Santissima Annunziata

Die Regierung von Florenz (Signoria)

Leonardo selbst

Studie zum Armkleid der Maria
Es ist nicht zu erkennen, was genau die Maria hier greift. Möglicherweise handelt es sich um eine verworfene Idee
Die Alpen von Mailand aus gesehen, Leonardo da Vinci zugeschrieben
Die Alpen liegen in Sichtweite Mailands. Zum Wandern und Forschen zog es Leonardo oft in die Berge

Der Burlington House Karton

Besitzer des Gemäldes

Bedeutung für die Kunstgeschichte

Sigmund Freuds Bildanalyse

Da sprach Gott, der Herr, zur Schlange: Weil du das getan hast, bist du verflucht unter allem Vieh und allen Tieren des Feldes. Auf dem Bauch wirst du kriechen und Staub fressen alle Tage deines Lebens. Feindschaft setze ich zwischen dich und die Frau, zwischen deinen Nachwuchs und ihren Nachwuchs. Er trifft dich am Kopf und du triffst ihn an der Ferse.

Zur Frau sprach er: Viel Mühsal bereite ich dir, sooft du schwanger wirst. Unter Schmerzen gebierst du Kinder. Du hast Verlangen nach deinem Mann, er aber wird über dich herrschen.

Zum Mann sprach er: Weil du auf deine Frau gehört und von dem Baum gegessen hast, von dem zu essen ich dir verboten hatte, so ist verflucht der Ackerboden deinetwegen. Unter Mühsal wirst du von ihm essen alle Tage deines Lebens. Dornen und Disteln lässt er dir wachsen und die Pflanzen des Feldes musst du essen. Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du zurückkehrst zum Ackerboden, denn von ihm bist du genommen. Staub bist du und zum Staub kehrst du zurück. 

Genesis Einheitsübersetzung, Kapitel 3, Vers 14-19

Quellen

Website des ausstellenden Museums: Louvre-Museum, Paris

Frank Zöllner, Leonardo, Taschen (2019)

Martin Kemp, Leonardo, C.H. Beck (2008)

Charles Niccholl, Leonardo da Vinci: Die Biographie, Fischer (2019)

Johannes Itten, Bildanalysen, Ravensburger (1988)

Die Bibel, Einheitsübersetzung, Altes und Neues Testament, Pattloch Verlag (1992)

Besonders empfehlenswert

Marianne Schneider, Das große Leonardo Buch – Sein Leben und Werk in Zeugnissen, Selbstzeugnissen und Dokumenten, Schirmer/ Mosel (2019)

Leonardo da Vinci, Schriften zur Malerei und sämtliche Gemälde, Schirmer/ Mosel (2011)

Nobody is perfect - das gilt auch für nicofranz.art!

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